Textem Jour Fixe
(regelmäßig)
Stöbern, Reden, Trinken
immer am 2. Dienstag des Monats
im Textem-Büro, Schäferstraße 26, Hamburg, ab 18 Uhr
Mit die spinne legt Eva Maria Leuenberger ein weiteres weich-kristallines Sprachwerk vor. Die Dinge werden für sich sprechen gelassen, und es ist klaren Auges Poesie zu finden, der Grat nur wird schmaler und schmaler, wie lange sie eigentlich noch zu lesen ist.
Bei minimal trash art erscheint nach längerer Zeit ein neuer Erzählband von Alexander Posch. Tage zählen heißt das prall gefüllte Konvolut Kurzgeschichten, von denen viele tatsächlich kurz sind im Sinne des Atems und durchaus rasant hintereinandergeschnitten. Einfache Sätze wohnen bei Posch, gehen vorüber, tragen alle eine oder mehrere Informationen mit sich, ein bisschen ungebügelt, vielleicht im Schlafanzug, nie aber aufgesetzt, gerne mit einem „gar nicht“ oder „jedenfalls“ im Gepäck.
Film ist Bewegung, und dieser Film bewegt sich, unaufhörlich holt er sich selber ein, er verkleidet sich, ist bald hier, bald da. Ist Komödie, Drama, Roadmovie, Film noir.
Lulu tritt auf, dieses Mal in einem neuen Outfit. Eine neue Frau? Nein. Eine neue Rolle? Vielleicht.
Knalltrocken werden die Positionen, Verstrickungen, überhaupt nur möglichen Handlungsspielräume der Angehörigen nach jenem Tod des Vaters aufgerollt. In wenigen Situationen gestattet sich Ceresa literarische Freuden, jedoch in genau in der Menge kalkuliert, die das Buch zum Buch (aus der Sendung machen).
Ein Antiwestern von Robert Benton aus dem Jahr 1972, der mit leichter Hand vom Unglück erzählt, vom Reisen in einen blutroten Sonnenuntergang, bei dem sich selbst die Freunde betrügen, bei dem man sich die Pferde wie das Vertrauen stiehlt.
Eine Ballade, die davon berichtet, dass die Unschuld nur ein weiters Handelsobjekt unter vielen ist. Und Freundschaft nur ein weiteres Schlachtfeld.
Marie T. Martins Stimme war in vielen Genres außergewöhnlich. „Du nennst mich Zwiebelmensch“, hier ist nicht nur ihre Entwicklung chronologisch nachzuvollziehen, Leser*in wird sich fallen lassen in die dicht gesponnenen, manchmal nur kurz aufblitzenden Wortwelten bei Der Winter dauerte 24 Jahre.
„Joker: Folie à Deux“ ist wie ein Röntgenbild unserer Tage, das all die Tumore und Brüche aufzeigt, aber auch die dunklen Keller der Psyche beleuchtet, nicht ohne einen Arthur Fleck zu zeigen, der all diese Gänge in der Tiefe ebenfalls erkundet und beschreitet; ein Arthur Fleck, der schließlich vor Horrorclowns flieht, der vor sich selbst flieht, vor seinem Ich, seiner Geschichte, seinen Verbrechen, der begreift, dass ihn kein Gesang dieser Welt erlösen kann, sondern nur die Liebe.
Der Ausbruch überhöht sich nicht. Der Text dient zwar als ein Vehikel dem Max-Erzähler zur Profilierung, seine Redeweise ist anfällig (in zwei Richtungen), doch davon abgesehen bringt der Roman den Umgang mit Zeit in mehr oder weniger gesitteten Verhältnissen als Basis von totaler Sackgasse zur Sprache, was ihn wohltuend von der Armee der abfeiernden Familienromane unterscheidet bzw. als bekennenden Außenseiter darin ausweist.
Die Goldwaage ist nicht angelegt, um in einem Zug hindurchzulesen, die schiere Länge verhindert den Gesamteffekt, sondern vielmehr die Selbstähnlichkeiten im Einzelgedicht, wie in der einzelnen Silbenbetrachtung, ihrer Verarbeitungen bei Nasima Sophia Razizadeh schätzen zu lernen: Das vorsichtige Blättern.
Die Schädeldecke, denkt er, müsste wieder einmal geweißt werden. Überhaupt, denkt er, ist es grauenhaft, dass ich ständig dieses Klopfen höre, diese Schritte, da muss doch jemand über mir eingezogen sein, denkt er und zuckt mit dem Kopf hin und her.
Dann wird noch der Schirrmacher gecheckt, der nichts einbringt. Das Teil ist von 2004, daher für Momox komplett wertlos. Dennoch, zusammen mit einem alten Sartre-Taschenbuch Mai `68 und die Folgen (0,15 Cent) hat Batalski immerhin eine Ausbeute von insgesamt 3,79 Euro.
Mit Unsere Fremden schreibt Lydia Davis ihre eindrucksvolle Prosaarbeit aus und weiter. Jan Wilm tut den Storys, Schnipseln, Unkategorisierbarkeiten als Übersetzer sichtlich gut, das Wesentliche, die Präzision von Davis’ Sprache, erfasst seine Übertragung in der Tat haargenau.
Herausfordernd anders, so schreibt Can Xue, die „wichtigste Vertreterin der literarischen Avantgarde in China“. Was das hierzulande bedeutet, sprich rein auf ihre Literatur in deutscher Übersetzung bezogen, wird seit einiger Zeit versucht zu beleuchten, bleibt wie im Fall von Schattenvolk aber möglicherweise für eine hiesige Leser*innenschaft nicht ohne Weiteres in Gänze erfahrbar.
Hogenstein ist ins Kino, er hat die schwere Türe gezogen, die ihm wie ein Fels erscheint, den man vor der Höhle fortrollen muss, er hat sie zu sich herangezogen, ganz wie einen alten Freund, den man in die Arme nimmt, und dann ist er hineingeschlüpft, hinein in die dunkle Höhle.
Hallräume steigen in den Kopf, dennoch geht der Band seinen eigenen Weg wie eine Taktik, „die welt aus den fugen ich in meinen“. außerhalb der blessuren lädt auf unaufgeregte Weise zum Wiederlesen, Querlesen ein. Es gelingt dem Band gut, nicht auf sich selbst auszurutschen oder Zielhaftigkeit vorauszusetzen in einem effizienten Sinne. Er plädiert auf sprachliche und formale Offenheit.
Autobahnende. Hamburg Horner Kreisel. Das Abbremsen ist kaum zu spüren, genauso wenig wie die Beschleunigung, wenn ich abends aus der Stadt raus Richtung zu Hause rolle, genauso wenig wie ein schönes Tempo auf der Autobahn. Zwei Tonnen bestes Material, von einem Dieselmotor angetrieben, sechs Zylinder, schluckt offiziell gerade mal siebeneinhalb Liter auf hundert Kilometer.
Sie hebt die Tasse, eine Tasse Kaffee am Morgen muss sein, sie setzt sie an, sie trinkt, oh, der ist heiß, heißer, als sie dachte, sodass sie die Tasse wegreißt, aber da sind einzelne Tropfen, entlassen in die Freiheit, Tropfen, die es nicht mehr in die Tasse schaffen, die nun fallen, die stürzen, die an ihrem Kinn entlang Richtung Hose taumeln ...
ERZÄHLER: Warum wurde einer zum Verbrecher? War es Schicksal? War es Zufall? War die Welt ein künstliches Uhrwerk, wo ein Rad das andere trieb und jedes nur da war, um getrieben zu werden? War der Verbrecher ein Rad im Uhrwerk der Welt? Wer könnte ihn dann richten? Oder war es falsch, die Dinge so von außen zu betrachten?
„Schuld war mein Hobby“ ist ein Lob auf die Kunsthochschule – Auffangbecken für alle möglichen „Idioten der Familie“ und Schwachköpfe – ja, ich habe eine Schwäche für den Kopf. Und für jene, die eine Pause von der Familie, dem Zuchtgebiet für Neurosen mit seinen Mauern aus Schweigen, brauchen.
Oktober 1950. Auf den Linien herrscht Verkehr, neu ist das geteilte Deutschland. Im Westen, wo Albert Pütz’ stimmungssensibler, stilistisch anspruchsvoller und exzellent recherchierter Roman Hecht in Himmerod seine Schauplätze hat, gibt es die Adenauerrepublik, die sich wieder bewehren will als Teil der NATO. In Ostdeutschland liegt der Systemfeind, der sich als Staat ideologisch auf einen Karl Marx gründet. Im Kloster Himmelrod in der Südeifel dürfen seine Schriften nur umgekehrt im Buchregal stehen.
Das ist das gute Wohnzimmer. Für die besonderen Tage. Die Großmutter sieht es nicht gerne, wenn eines der Kinder sich in einen Sessel setzt. Sie selbst sitzt in einem billigen Modell neben dem Telefon. Das Telefon ist ihr wichtig. So kann man sie anrufen, sie kann anrufen.
Extrem gut beobachtet, dicht geschildert ist Willa Cathers Sprache feinsinnig, das jedoch nicht zum Selbstzweck. Die Stimmung in Der verwunschene Fels nimmt einiges ur-amerikanische Erzählen in Fokus, Setting, Stil vorweg (von Capote bis Stephen King), löst es zugleich in sehr eigene Storyverstrebungen auf.
Hier hat man es mit einem veritablen Buch zu tun, das Kreis zu schreiben versteht. Sehr verdichtet, ohne Manierismen, versprachlicht es Entwicklungen, Ängste, Begegnungen, Strömungen, Plaudereien auf solide bis brillante Weise – jene Schreibfigur Kreis ist eine authentische im besten Sinne. Seine Schreibe steckt voll ökonomischer Garstigkeit wie zuverlässiger Güte.
Im Ziegelplattengrab bereitet nicht nur den theoretisch Hochfrisierten Leselust, sondern allen, die das Unbehagen an der verarmten, normierten, sich der Sprachlosigkeit asymptotisch annähernden Gegenwart kennen und teilen. Und Anne Storch ist ein wundersam’ Wesen, so viel Fantasie und schürfende Tiefe, so gut auf den Ausdrucks-Punkt gebracht.
Der auf Avantgarden spezialisierte Verlag Zero Sharp bringt eine zweisprachige Ausgabe der Gedichte von Marcia Nardi heraus, anspruchsvoll schlicht gestaltet. Dabei entspricht die Auswahl dem angedachten Vermächtnis der Autorin, die 1990 verstarb, d.h. ihrem quasi letzten Veröffentlichungswillen, sieben Jahre vor ihrem Tod verschriftlicht.
Joseph stürzt, Scheißdreck, Drecksbande, da raus, Joseph, groß, breit, stark, hinaus aus der Bank, er dreht sich noch einmal um, schüttelt den Kopf, dann geht er zum Auto, schließt die Tür auf, klemmt sich hinter das Steuer, Joseph, zu groß für seinen Wagen, zu groß für diese Kleinstadt, zu groß für das kleingeistige Denken der Bank, die ihm bereits im Rücken liegt.
“I am a story that tells itself,” says Fabien Lübke who, along with his partner Elias Langermann, transmutes life into art in diaristic and dreamlike videos.
NACHWASSER ist bei aller komplexen Setzung eventuell weniger experimentell denn konsequent synchron als Schau angelegt, vielleicht von einem Stand. Für wen ist es geschrieben? Wenn der Text seine eigenen Leser*innen ist, dann bildet er womöglich eine Endlosschleife. Er schaut sich selbst beim Schreiben zu & macht dies zu seiner eigenen Frage, zwischen Persönlichem, Literarischpersönlichem, Literarischem (Rückschauen & -seiten). Das ist mutig.
Manchmal kommt ein Gefühl auf, als verweigere die Autorin sich, aber was oder wem genau, bleibt ebenso undeutlich, obgleich oder wegen ihrer scharfen, fast messerscharfen Klarheit.
Daphne, ich bin wütend ist ganz sicher ein Statement mit Wucht und Emphase, das jede Aufmerksamkeit mehr als verdient. Eine singuläre Dichtposition, die distinkt, eloquent, reflektiert wie neugierig das Material Welt aufnimmt, zerlegt, parafügt. Reinecke hat mit Prosa wie Lyrik bestellt und es sei, neben der verlegerischen Tätigkeit (Reinecke & Voss), davor ein Hut gezogen.
Van de Veldes Sprache, die genrestrukturell eher den Charakter von Briefen hat, ungebügelt, schnell, mit Risiko, ist wach & zärtlich zugleich, inhaltlich sicher ihrer Zeit verhaftet, die Chronik der Durchbruchverhalten.
Bei Hans Petri meint man einen Kult beobachten zu können, der sich auf eine eigensinnige, privat magische Auslegung heiliger Schriften konzentriert, in Petris Fall sind es wohl vor allem besagte selbst angefertigte Heiligenbildchen und LPs statt Schriften.
In 1–8 „Wirkungsräume“ unterteilt nimmt sich die Monografie kategorialer Unterscheidungen an, stellt sie zunächst in Minizusammenfassungen vor, die sich wie kleine Filmkritiken lesen – was tatsächlich der Idee einer mit Wirkung verknüpften Narrativität zugute kommt.
Einigen Gedichten gelingt es, Zwischentöne anzuschlagen und sich, vom Bekenntnis ausgehend, Erkenntnissen anzunähern, Gefühle zu erkunden und nicht nur zu platzieren. Wer Pathos, Liebesgedichte und Lebensfreude sucht, wird sie hier auf jeden Fall finden.
Ein weiteres beeindruckendes Buchwerk von Maya Angelou aus Kommunikation und dringlicher Aktualität, das vor allem Frische ausstrahlt. Oder etwas platter ausgedrückt: unbrechbar!
„Wenn Alexander Solschenizyn kommt, dann erhält er bei uns Tee, Brot und ein Bett.“
Im Februar 1974 war Heinrich Böll zwei Tage lang Gastgeber von Alexander Solschenizyn.
Er öffnet die Tür, linst hinaus, igitt, Außenwelt, denkt er, aber leider, ach ja, leider, muss man da hin und wieder mal raus, hinein in die Außenwelt, igitt, er setzt vorsichtig einen ersten Schritt, setzt den Fuß, der in einem Schuh sitzt, behutsam auf, zieht ihn zurück, als hätte er sich verbrannt.
Widerständige Literatur voller Neugier auf alles, dabei trotzdem ein Pageturner, Pedro Lemebel hat das reichlich genial kombiniert. Torero, ich hab Angst war überfällig, endlich ist es da.
Im Treppenhaus riecht es nach der Frau, die im Stockwerk unter uns wohnt. Sie ist alt, man könnte also sagen, dass es irgendwie unbestimmt nach ihrem Alter riecht, nach ihrem fortschreitenden Alter, denn es riecht irgendwie muffig, ungelüftet, es riecht nach verbrauchter Zeit.
Ist das nun Literatur oder Leben oder beides oder keins von beidem oder etwas Drittes? Ganz sicher ist die Lust am Erinnern auf inspirierende Weise, und das zweifach in Wort und Bild, direkt wie unverstellt festgehalten worden in diesem Werk, das auf seine Weise auch ein Stück Freiheit des Ausdrucks findet zwischen den Buchdeckeln.
Dies Buch ist eine fantastisch-lustige Reise durch ein Land werdender Gourmets. Sehr kurzweilig und herzallerliebst. Für den weihnachtlichen Gabentisch und für jedes Alter nur zu empfehlen.
Als wiedererkennbar zeichnet sich der hintergründige Zug Waldrops aus, leicht surreale Prosa über das Schreiben selbst hinein zu verstreuen, die ihn selbst wiederum als geschmunzelt-gescheitert zurück in die Gedichte treibt, z.B. während der Episode um seinen Versuch, endlich einmal Horror- und Geistergeschichten zu verfassen.
Zurück bleibt eine schwarze Mattscheibe, die sie spiegelt, die sie zeigt, sie beide im großen Schwarz des Bildschirms, wie sie sich in den Arm nehmen, wie sie mit der Welt umgehen, jeder für sich und doch auch gemeinsam, so halten sie sich fest, um nicht alleine durch das nachtschwarze Weltall des Bildschirms zu stürzen, dort, wo man nicht atmen kann, dort, wo man erstickt.
"Sie schreiben also, äh, über sich selbst", sagt der Alte an seinem Schreibtisch. Hinter ihm an der Wand hängt ein riesiges Schwarzweißfoto von Thomas Mann, rauchend in einem Lehnstuhl, durch Berge von Zeitungen blätternd; er stiert direkt nach dem Betrachter.
"Würde ich nie tun", sagt ein jüngerer Mann am anderen Ende des Schreibtischs. Er kaut Kaugummi.
Meine Stadt ist ein subtiles Kommunikationsbuch, mit schrägen Ideen wie „Die neuen Instant-Romane des Apfelbuchverlags sind daher eine herausragende Erfindung“. Das Satirische verbindet sich hier mit dem Unabwendbaren, die Details mit einem nicht zu fassenden Ganzen, dessen 70ies-Flair heutzutage weit entfernt scheint.
DMZ Kolonie, der Band mit den Siedlungen in militärisch hochbefestigter Grenzzone zwischen Nord- und Südkorea im Titel, hält, was er verspricht. Don Mee Chois Exkursion zu vielschichtigen Bruchsituationen ist, ausgezeichnet übersetzt von Uljana Wolf, nichts weniger als durch und durch verstörend.
„Das politische Handeln zwischen Dorferneuerung und Ortsbildschutz“, wie es in dem beigedruckten Interview + Gespräch heißt, bildet sich in den Gebäuden Armando Ruinellis selbst ab.
Akzeptiert man, dass die Grundprinzipien allen Lebens Anpassen und Teilen sind, wird hier, so eine metaphorische Lesart, noch ein Mit-teilen hinzugefügt. Wir geben nicht nur Gene, sondern auch Geschichten weiter. Wir pflanzen uns nicht nur fort, sondern teilen uns auch mit. Und die Kunst ist es, dies in möglichst attraktiven, in schönen Formen zu tun. Und wenn wir Glück haben, überleben die Geschichten uns. Wohl wissend, dass schön erzählte Geschichten eine bessere Überlebenschance haben. Gipi erzählt eine solche, in Wort und Bild.
Deutsch als Kolonialsprache ist ein Fort-da-Spielchen. Sie war es nicht lange genug, um zur Zielscheibe einer postkolonialen Kritik zu werden, die das ‚-phone‘ aus Europa – das Frankophone, Anglophone, Lusophone – anklagt als neokoloniale Komplizin von Bildungs- und Entwicklungsidealen: also als Sprachen, die den imperialen Kanonenkugel folgten. Glück gehabt, denn Deutsch war damit fein raus.
Trotzdem ist sie wieder da.
Die Epoche der Pressegrafik dauerte knapp 100 Jahre, von Anfang des 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Dann begannen fototechnische Druckbilder die mediale Öffentlichkeit zu beherrschen. Alexander Roob, selbst Künstler, sammelt leidenschaftlich dokumentarische Grafiken. Mit seiner Sammlung deckt er Querverbindungen zu bildenden Künstlern, Politik und Zeitgeschehen auf.
Die Desillusionierung ist omnipräsent, „ihr Frauenhass / war unbestreitbar“, „ihre falschen Feuerkronen“, die Sonette sind Protokolle einer Suche heraus. Das idolisierte Fliehen-können in Kunst (vielleicht zu anderen) bleibt ein einsamer Weg, aus dem es kein Abbiegen zurück zu geben scheint.
Nach den Gewehrkugeln die Bildung. Damit unterscheidet wa Thiong’o den ersten, expansiven vom zweiten invasiven Kolonialismus. Der war einer ohne spürbare und allzu sichtbare Einstichstelle, dafür mit denselben groben Auswirkungen im afrikanischen Körper bis heute.
Gestern bin ich den ganzen Tag draußen rumgelaufen. Ich habe dann geschlafen wie eine Ratte. Wissen Sie überhaupt, wie eine Ratte schläft? Nicht? Nun, die Augen zu. Als Erstes habe ich eine halbe Flasche Wasser ausgetrunken. Ich trinke ja sonst nicht mehr als zwei Gläser hintereinander. Zusammen mit dem Kaffee komme ich täglich so auf meine zwei Liter. Ich habe es schon ausprobiert, aber das Messen liegt mir nicht.
‚Bildung‘ als das neokoloniale Terrain par excellence lässt sich auch bei denen, die heute antreten, um in (West-)Afrika Lernen anzuleiten und zu lehren, selbstreferentiell neben die anderen Ankerbegriffe der Hannoverschen Schule platzieren: Bildung als offenbar nicht voraussetzungsloses, sondern seit der kolonialen Zeit verschuldetes und derzeit vielen Transformationen wie dem Zusammenschnurren der Welt durch Digitalisierung zu einem global-dörflichen Klassenraum unterworfenes Konzept.
„Wir waren für einen Kampf, der in seiner Form schon die künftige Freiheit in sich trug, der vielfältige Lebensweisen außerhalb jeder Form der Verdinglichung ermöglichte, der Kritik und Analyse, Spiel und Lust nicht in die Zwänge des Guerrilakampfes presste.“
Die Interkulturelle Germanistik propagiere einen alten deutschen und überlegenheitsanmutenden Wein in neuen, halbwegs kritisch-theoretisch durchgespülten Schläuchen. Alioune Sow sah darin wie wa Thiong’o im Jahr 1986, und damit vor der Wiedervereinigung Deutschlands, eine Form von Neokolonialismus.
Radikaler Pluralismus und eine Verbreitung der Basis von Menschenrechten, ihre Anerkennung durch alle und ihre Verankerung in positivem Recht könnten die passenden Antworten auf Identitätspolitik sein. Dass das staatsbürgerliche „Wir“ überhaupt erst ersonnen wurde, „um sich der Verpflichtung gegenüber der Menschheit zu entledigen“, ist ein Kurzschluss Omri Boehms. Auch wenn die Hoffnung des italienischen Philosophen Norberto Bobbio aus einer Zeit, in der die Demokratien weltweit auf dem Vormarsch waren, heute sehr optimistisch klingt: dass die nationalstaatlich begrenzte Anerkennung vieler Menschenrechte nur eine Etappe sei auf dem Weg zum Wir der Menschheit.