11. Dezember 2022

‚Heim‘ und ‚Gast‘ im Gegenteil

 

Kapstädter Impulse über das Unheimliche und Ungastliche von Sprache und Übersetzung

Teil I

 

Bruno Arich-Gerz


Teaching Transformations: Die Sommerschule in Kapstadt handelte von den akademischen Blickveränderungen in einer glokalen Gegenwart, die so heißt, weil sie örtlich fixierbar ist (deswegen lokal) und gleichzeitig weltweit (global) stattfindet.


‚Glokal‘ sind die Ursachen und Auswirkungen eines Klimawandels, der zuletzt sehr konkret auf Ischia oder im Ahrtal stattfand. ‚Glokal‘ ist das auf einen Standort heruntergebrochene Geschehen, das weltweit stattfindet.


Nach der Covid-19-Pandemie, die nicht ohne Grund Pandemie und nicht Endemie heißt, zeigte sich das Glokale in der Umstellung auf kontaktlosen Fernunterricht in Schule und Hochschulen via Zoom und MS Teams.


Das ‚Glokale‘, das als Wortschöpfung inzwischen 30 Jahre alt ist und auf den Sozialwissenschaftler Roland Robertson zurückgeht, berechnet auch den Wechselkurs in den geläufigen Wert-, Sprachen- und Zeichensystemen:


‚Glokal‘ ist zum Beispiel das Echo, das Frankreichs Staatspräsident Macron und die von ihm in Auftrag gegebene Studie von Bénédict Savoy und Féline Sarr hervorgerufen haben. Es ging um die heutigen Bestände in ehemals kolonialen Ausstellungsstätten. Nicht nur das Berliner Humboldt Forum oder das Rautenstrauch-Joest Museum in Köln, sondern auch ethnologische Schauen in Paris, London, Madrid, Warschau und anderswo sind als Zeigeorte längst selber postkolonial geworden, weil sie in Nachfolge getreten sind zu ihren kolonialzeitlichen Vorgängerinstitutionen.
Und weil sie die Exponate, um die es geht, nach wie vor ‚da haben‘.


Je spezifisch und lokal finden sich in den Debatten und Diskursen, die die Inventarien nach Macrons Impuls umwaber(te)n, gänzlich eigene koloniale Residuen: ‚Gabe‘ und ‚Schenkung‘ zum Beispiel in Deutschland und im modernen Deutsch, also nationalversprachlicht. Es waren Geschenke von Gastgebenden an ihre kolonialen Gäste und damit legitim erhaltene Gaben und Schenkungen an die weiterverwertenden Museen.


Nicht?


Dass es sich so kaum verhalten hat, zeigte Mikael Assilkingas begriffsarchäologischer Beitrag bei der Sommerschule. Das wertvolle Heimische – egal ob tauschwert-, kunstwert- oder kultwertvoll: das lag in der grabbing hand des ‚Beschenkten‘ – wurde in Assilkingas semantischer Grabung zur Gabe, die nicht immer eine freiwillige war, dafür oft eine geraubte. Die lokale Sprache Deutsch hat das verkleistern können, enttarnt sich aber mit der global platzierten und zunehmend wirkmächtigen Einsicht einer (und seiner) Unrechtmäßigkeit. Es handelte sich nicht um Geschenke, die von den heimgekehrten Kolonisatoren als Schenkungen an Museen vertickt wurden: ils n’étaient pas des dons. They were no gifts.


Dennoch wurde und wird es im Deutschen terminologisch so verhandelt: voller Rechtswirksamkeit nicht nur im Fall von ‚Schenkung‘, sondern selbst noch bei Gabe, einer Vokabel mit philosophischer Tiefe, die ihren Charme im Kompositum ‚Rückgabe‘ verliert. Mehr noch, die für eine Mogelpackung herhalten muss. Man gibt einmal Gegebenes zurück, man verzichtet generös. Kein Raub mehr, nirgends.


Überhaupt die lokale Sprache Deutsch, was ist ihr gegeben? Welche Worte lässt sie heimisch werden?


Im Heimischen von Französisch, das nicht nur eine koloniale Sprache demarkiert, sondern auch Kulturwissen wie Marcel Mauss’ Überlegungen zu Le Don (1925) beherbergt, oder im Spanischen sind solche Einfuhrwaren des Bezeichnenden und Bezeichneten halbwegs ausbalanciert. Etwa aus dem Quechua: poncho, alpaca, lama oder – nicht unproblematisch, da botanisches Raubgut – quinina (Chinin). patata, angeblich mit Quechua- und Taíno-Wurzeln, wanderte über das koloniale Spanisch durch bis ins Arabische und Englische (potato). Den Termini wurde dort Gast-gegeben. Anders bei den Kartoffeln. Deutsch ist daneben eher ungastlich, und das besonders bei afrikakolonialem Besuch. Herein kam kaum etwas ohne deutschkulturelle Überformung. Usambaraveilchen (von ‚Wasambaa‘, ein Wort aus dem Swahilli) oder treue Askaris: der Gast als Geisel deutscher Blumen und Tugenden. Von den Hottentotten, dem lautlichen Verhohnepipeln der Khoisan-Sprachen im südwestlichen Afrika zu schweigen, deren Schnalz- und Klicklaute in der kaiserdeutschen Metropole zum pars pro toto (und Stigmawort) für eine ganze Ethnie wurden.


Anders ausgedrückt, um die linguistic hospitality ist es beim Deutschen nicht gut bestellt.


Die Gastfreundschaft einer Sprache, sie wurde in Kapstadt von der Afrikanistin Anne Storch ins Spiel gebracht. Das Anliegen ist dabei ein ethisches, die theoretische Basis borgt sie sich bei Paul Ricoeur (Vom Übersetzen), der ‚sprachliche Gastfreundschaft‘ als Trauerarbeit auslegt, weil für die Übersetzer:in die komplett äquivalente, ideale Übersetzung unerreichbar bleibt, aber auch als eine Praxis, ‚bei der das Vergnügen, die Sprache des anderen zu bewohnen, vergolten wird durch das Vergnügen, bei sich, in seiner eigenen, gern aufnehmenden Bleibe, das Wort des Fremden zu empfangen‘. Außerdem rückversichert sich die Idee bei Jacques Derridas Überlegungen Von der Gastfreundschaft, ein bisschen vielleicht auch bei Mauss.


Zweierlei setzt die Idee der linguistic hospitality zentral. Erstens das Handwerk und die Verpflichtung der Übersetzer:in ihren Sprachen gegenüber, der eigenen und der fremden, aus der übersetzt wird. Zweitens die stillschweigende Annahme, dass es jene standardisierten und kodifizierten Dinge gibt, die hier lokale Sprachen heißen. Das Deutsch, nicht die Deutsche. Denn sonst gäbe keine Gast, keine böte Heimstatt und keine könnte sie annehmen. Die Gastfreundschaft einer Sprache bedingt, dass daheim aufgeräumt ist: pur und ‚gereinigt‘, um es mit Bruno Latour zu sagen.


Genauer ist, erstens, die Verpflichtung der Übersetzer:in gegenüber der Ausgangs- und Zielsprache, die in der Regel ihre eigene ist, gedoppelt in derjenigen gegenüber den Verfasser:innen und Leser:innen von Ausgangstext und Übersetzung. Ricoeur merkt das an: „Durch den Akt des Übersetzens werden tatsächlich zwei Partner zueinander in Bezug gesetzt, der oder das Fremde – ein Wort, mit dem das Werk, der Autor, seine Sprache abgedeckt werden – und der Leser, für den das übersetzte Werk bestimmt ist.“ Nicht Sprachen, diese von der Linguistik durch- und durchstrukturierten und längst auch technisch (Deep L, Google Translate) ineinander überführbaren Wesen sind einander Heim und Gast, sondern linguistic hospitality bedarf (menschlicher) Akteure:  ‚Den Leser zum Autor führen, den Autor zum Leser, das bedeutet (auf die Gefahr hin, zwei Herren zu diesen und beide zu verraten), das zu praktizieren, was ich sprachliche Gastfreundschaft nenne‘. Auch Richard Kearney hat diese ‚double duty‘ der Übersetzer:in neulich (2021) aufgegriffen. Die ethische Verantwortung bestehe darin, ,to remain faithful to one’s own language and to welcome the foreigner’s language at the same time‘, was auf ein Drahtseilbalancieren und -navigieren herausläuft. Zu vermeiden sind die Skylla der Ungastlichkeit, wenn man die eigene Sprache mit ihren Strukturen und Wuchten zum non plus ultra macht, und die Charibdis einer derart großen Öffnung gegenüber dem Text und seiner fremden Sprache, dass diese Besitz von one’s own language ergreifen und sie erniedrigen – ‚either linguistic hegemony or humiliation‘. Am besten steuere man zwischen beiden hindurch, so Kearneys Rezept. Man nehme ‚a middle road of linguistic hospitality where one honours the host and guest language equitably‘.


Dieses gleichzeitige Honorieren von dem, was empfängt, und dem, was sich im Handwerk des Übersetzens auf den Weg macht, um eingelassen zu werden, ist zweitens hübsche Theorie. Die lokale Sprache Deutsch hat solch ein Honorieren selten honoriert, wie gesagt. Und die Übersetzer:in mit ihrer doppelt verpflichteten Gastfreundlichkeit hangelt sich etwas praxisfremd am Ideal einer Demarkierung entlang, in der sich das Eigene und Heimische mit der fremden Sprache nicht vermischt.