12. März 2023

Hanna Mittelstädt. ARBEITET NIE!

Die Erfindung eines anderen Lebens

Chronik eines Verlags

„Wir sind ja keine Puristen, sondern Kämpfer.“

Hanna Mittelstädt unternimmt in diesem Buch Reisen in die Vergangenheit. Es sind eben diese Reisen, welche die Verbindungen zwischen den Buch-, Theater-, Platten-, Zeitschriftenprojekten des Verlags Edition Nautilus herstellen – lose assoziierte, sinnfällige, zwingende.

Das Schreiben über die ersten 40 Jahre des Verlags Edition Nautilus ist eine „Kontaktzone zwischen Vergangenheit und Gegenwart“. Eine „subjektive Chronik“, ausgepolstert mit Verlagskorrespondenz, gehoben aus Aktenordnern. Hanna blickt auf 30 Jahre analoge Projektarbeit, das heißt sichtbares Chaos (keine Cloud weit und breit), unfassbare Unordnung, Stapel und Haufen von Papier. 1996 begann der Mail-Verkehr.

Aber was soll schnöde Arbeitsplatzbeschreibung, entscheidend ist die Frage: Das gute Leben, wie geht das?

Pierre Gallissaires, Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt lernen sich 1972 im Versammlungslokal der Hamburger Anarchisten kennen. Pierre ist rund 20 Jahre älter und so frustriert vom Scheitern des Pariser Mai 1968, dass er sozusagen eine Auszeit in Hamburg nimmt, dort bringt er Hanna und Lutz und noch ein paar anderen damals noch sehr jungen Menschen die Situationisten nah – fast niemand wusste, wer oder was das ist.

Zum Selbstverständnis der „Subrealisten Bewegung“ (die Gruppe, zu der auch Lutz und Hanna damals gehörten), also wie es dazu kam, dass sie die irre Idee entwickelten, die Bücher, die sie lesen wollten, sich selbst zur Verfügung zu stellen – also einen Verlag zu gründen, schreibt Roberto Ohrt: „Zuerst kam die Dynamik, dann der Inhalt“ … „Im Lauf der Zeit erfassten wir die Ideen der Situationisten genauer, doch als es losging, kam die Vorstellung, die wir als ein Vorbild am Horizont zu sehen glaubten, überwiegend aus unseren eigenen Phantasien; das war – wir ahnten es nicht einmal ansatzweise – die Bedingung unserer Aneignung.“

Diese literarische, künstlerische Prägung durch den Situationismus ist von entscheidender Bedeutung, sucht man nach einer Erklärung für das unverbrüchliche Durchhaltevermögen der ersten 40 Jahre Nautilus, trotz fast durchgehend ärgster Finanznot.

So etwas übersteht man nicht allein und schon gar nicht in klassischen Betriebsstrukturen mit Businessplan und Marktanalyse, so etwas braucht wirklich die Erfindung eines anderen Lebens.

Die Texte der Situationisten entwarfen diese andere Praxis für ein anderes Leben, im damaligen Biesterfeld der K-Gruppen, nachfaschistischer Hegemonie, BRD-Muff, RAF und anderen bewaffneten Fantasien – etwas anderes als krasse Konfrontation mit der Staatsgewalt, Knast und Selbstmord.

Eine andere Spur tat sich auf, die sich verfolgen ließ, ohne sich mit der Gewalt der herrschenden Ordnung gemeinzumachen.

Hanna dazu: „Wir waren für einen Kampf, der in seiner Form schon die künftige Freiheit in sich trug, der vielfältige Lebensweisen außerhalb jeder Form der Verdinglichung ermöglichte, der Kritik und Analyse, Spiel und Lust nicht in die Zwänge des Guerrilakampfes presste.“

Im Laufe der Zeit schwimmt die Nautilus sachte hinaus aus der Subkultur und gerät mitten hinein in die Tücken der Professionalisierung: Rechte klären, einhalten, einklagen, gewähren, Lizenzen aushandeln, Vertreter anfeuern, abrechnen … hochgradig uninspirierend, und je professioneller das Unternehmen, umso aufdringlicher, notwendiger – gefordert nicht nur von Autor*innen, sondern auch notwendig zur Abwehr großmäuliger, besser gestellter Branchen-Kollegen.

Hanna ist im Kreise der Genossen die „tapfere große Schwester“ (nicht nur, weil sie es auch ist, die dieses Buch schreibt, als Letzte der drei Gründungsmitglieder des Verlags), sie ist die Vernunft, das Taxi, die Buchhaltung, das Lektorat, die Schlichtungsstelle, zuständig für Übersetzungen und Verträge – zuständig auch dafür, die im Überschwang der Begeisterung gemachten Versprechen einzulösen.

Das Buch ist schön.

Serifenlose kurze Zitate stoppen oder starten neue Ketten von Assoziationen, breit und kursiv laufen die originalen Briefe (und weitere Quellen) vieler verschiedener Beteiligter am U-Boot-Projekt Nautilus (die Briefe allein verdienten eine gesonderte Betrachtung: Die Prosa ist ausschweifend, elliptisch, witzig, verzweifelt, romantisch und uferlos – eine ausgestorbene Kommunikationsform).

Eingerückt laufen Hannas Erklärungen, Reflexionen und Reisebeschreibungen – dabei mit schönster Selbstverständlichkeit die historischen mit den aktuellen Reisen verbindend. Das macht das Buch ganz besonders wunderbar, in der Kombination und Verschränkung der Zeiten erfüllt sich das Diktum einer weiteren für das Projekt Nautilus wichtigen Person: „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ (Francis Picabia). Und wirklich ständig ist man lesend dabei, von heute aus in die 70er, 80er, 90er zu schauen, zu springen oder zu fallen oder andersherum von den 70ern aus Richtung heute zu schleudern – von den Kämpfen der Zappatisten zu G20 in Hamburg, von Barcelona nach Chiapas und wieder hin und zurück nach Bergedorf und zum Rasten ins winzige Strandhaus in Rissen. Welches immer von den Elbesturmfluten bedroht ist, wie der Verlag von der Pleite. Texte dieser Art lassen sich nicht schnell lesen, worum es auch gar nicht gehen kann. Denn, so Hanna in anderem Zusammenhang: „Wir sind ja keine Puristen, sondern Kämpfer.“

Manches Mal fließt der Text träumend verwundert, allerdings nicht wegen der schier unübersehbare Masse von Irrsinnsprojekten, wunderbaren, anstrengenden und hinreißenden Menschen und großartigen Büchern, die im Laufe von 40 Jahren für das Gelingen des Verlags sorgten, sondern nur wegen einer ganz bestimmte Farbe des Himmels oder des zauberhaften Blaus einer Meeresbucht. Es wird überhaupt viel geschwommen in diesem Buch. Der Nautilus-Muschel gemäß.

(nora sdun, 2023)

Hanna Mittelstädt. ARBEITET NIE!

Die Erfindung eines anderen Lebens

Chronik eines Verlags

Broschur, Umschlag aus Archivkarton, 50 S/W-Abbildungen, 360 Seiten, Edition Nautilus, 2023

978-3-96054-317-6, 28,00 Euro

https://edition-nautilus.de/programm/arbeitet-nie/