25. November 2023

Alle Messiasse sind falsch


Einem größeren Projekt hat sich der Gutleut Verlag aus Frankfurt angenommen bei der Herausgabe des langgespannten umfangreichen Werkkörpers von Keith Waldrop, amerikanischer Lyriker, Bildender Künstler und Verleger, in diesem Sommer verstorben. Nach zwei Gedichtbänden zuvor, ebenfalls bei Gutleut, ist es nun in diesem Jahr eine Trilogie dreier Einzelbände, die jeweils zudem separat erscheinen, übersetzt und herausgegeben von Alexander Kappe, Jan Kuhlbrodt und Michael Wagener, die wie stets mit Augenmerk auf die Verbindung von Texten mit Bildmaterial, Collagen etc. herausgegeben werden, plus der regelmäßigen Extramühe: dem sprichwörtlichen Schutzumschlag, Plakat- auf der Innenrückseite – einer Falte für besondere Texte. Die Kassettenreihenfolge richtet sich nach Bandentstehungszeit: I das prinzip der lokalität, II der umriss der brücke, III semiramis soweit ich erinnere, wird an dieser Stelle aber in umgekehrter (Lese-) Abfolge besprochen.
Der dritte Band semiramis soweit ich erinnere, den Verleger Michael Wagener selber behutsam wie angemessen pointiert übersetzt hat, stammt aus dem Jahr 2001. Er trägt den Untertitel selbstportrait als maske, mäandert durch seine Gedichträume wie ein Memoir, voller Überraschungen, halluzinogen, mitunter ziemlich humorig.

„nicht länger
denkbar, Raum, nicht
mehr

kommt nicht in noch
geht aus von

dort, zurück, im
Geist, kein
Raum“

Sich gegenübergesellt, einander ausgesetzt werden Bildsituationen, d.h. in sich offen-geschlossen wirkende Bauteile einer lyrischen Flur. „Es scheint irgendwie, trotz allem, was man sagen kann, schlimmer/ als der Tod zu sein, zu sterben, ohne es zu wissen.“ [...] „Rauschen in der Kamera, Lichtfehler. Ich stelle Fenster auf der anderen Seite der Hügel in Frage.“ [...] „Soweit ich erinnere, stammte Semiramis aus einer hügligen Region und, als sie sich auf einer Ebene wiederfand, von der Prärie zu Tode gelangweilt, entwarf sie einen großen Garten, legte ihn großflächig und terrassenförmig an, der in ihrer Vorstellung einem Berg gleichkam.“ Neben den Sichtbereichen zu Semiramis, ihrer Gartenthematik, sind es die eingestreuten Miniaturen und Lyrik-auf-Lyrik-Sequenzen, die bezaubern:
„Früher waren ganze Blocks der Fourth Avenue und auch des Broadway, unterhalb der Fourteenth Street, von Antiquariaten gesäumt – einige recht großräumig, die meisten aber klein, schmuddelig, überfüllt (mit Büchern, nicht mit Kunden). Ein Paar waren gut sortiert und übersichtlich, die meisten verstaubt und verschimmelt, unkatalogisiert und undurchdringlich. Das vornehmste war Schultes The Haunted Bookshop – ein Roman, der heute kaum noch gelesen wird, über einen Laden, an den man sich kaum noch erinnern kann.“
In der Übersetzung schwingt zuweilen Lust am Anglophonen mit, sodass der Fluss nie gesättigt, sondern stets unterbrochen wird von Klängen wie Schildern, Wortlisten, Gedichten im Gedicht, die als Anzeigen aufblenden.
„Tal und Wald weichen ... Umleitung ... hin zur Intelligenz ... wenn ich andere liebe wie mich selbst, bleibt es irgendwie hinter der christlichen Nächstenliebe zurück ... Bilder des Lichts ... bevor du verschwindest ... all die Sünden seit Adam ... sitzen ... zu Formen gebogenes Licht ... und schmal nach unten ... watet durch den Fluss ... seit ... Wahnsinnsszene ... Grabszene ... Ölporträts von ausgestorbenen Tieren ... typische Form von ›overdressed‹“
Ereignisse, die autobiografisch erscheinen, Abende mit Rosmarie (Waldrop), Oper, Berlin, München, streichen selbstverständlich in den Strom der Erinnerungen hinein – der Flüchtigkeit ins Angesicht, „Singe schnell. Stimmen versagen.“ Letzteres könnte möglicherweise als eine der Kernhaltungen in Waldrops Buch ausgemacht werden, dazu als Erweiterung: „Auch unser Schweigen ist ein ganz eigenes.“

„Manchmal, wenn ich meine Fotos entwickle, schaue ich sie an und frage mich, was ich da eigentlich fotografieren wollte.“

Im mittleren Band der umriss der brücke, im Untertitel behelfserinnerungen, wird eine ähnliche Ineinanderblendung von Bildern ausgestaltet. Von Jan Kuhlbrodt ruhig, stur besonnen übersetzt, zeichnet sich dieses Waldropsche Werk durch seinen gleichmäßigen Duktus aus, worin sich erneut Gedichtgedichte, Notate, humorige Quetschungen und philosophische Schnipsel zwischen Zahnweh und Traumerwachen verweben. „Ich werfe Müll hinter meinen Spiegel.“ Die Zahnprobleme münden in eine Operation. Narkose als Kontrapost zwischen programmatischen Satzabfolgen, die beinahe einen Traktat ergäben. „Ich spreche den hiesigen Dialekt nicht, und brooks sind für mich creeks.“
Eine spirituelle Reise in die „Wüste hinter der Wüste“, kombiniert mit Tinnitus, den „rein subjektiven Grillen“, lassen Leser*in zwischen Polen schwanken, nie rein vergnüglich und nie rein absichtlich giftig – ein Schweben vielmehr zwischen Wortempfindungen.

„Li Po, den höchsten Berg erklimmend, wurde von übernatürlich zarten Mädchen angesprochen. Sie luden ihn ein, aus einer völlig seltsamen Tasse zu trinken. Wehmütig und beschämt erklärte er, nicht bereit zu sein für die Unsterblichkeit.“

Als wiedererkennbar zeichnet sich der hintergründige Zug Waldrops aus, leicht surreale Prosa über das Schreiben selbst hinein zu verstreuen, die ihn selbst wiederum als geschmunzelt-gescheitert zurück in die Gedichte treibt, z.B. während der Episode um seinen Versuch, endlich einmal Horror- und Geistergeschichten zu verfassen: „In meiner Freizeit arbeite ich an Horror- und Geistergeschichten. Ich versuche, eine zu schreiben, habe es über Jahre wieder und wieder versucht. Es geht so langsam voran, dass ich daran zweifle, jemals den Höhepunkt zu erreichen, geschweige denn zu einem Ende zu kommen. // Ich erkenne gleich einen Fehler in der Geschichte: das Gespenst erschien schon auf Seite 1.“
Schließlich folgerichtig, ausrahmt ein Traumes-Erwachen diesen erneut reichhaltigen Band. Im Plakatumschlag findet sich in der umriss der brücke unter anderem ausgestellt:

„KOMMEN UND GEHEN, SO SYMMETRISCH SIE SCHEINEN, HABEN NICHTS MITEINANDER GEMEIN.“

Der erste Band in der Kassette, übersetzt von Wagener und Alexander Kappe, ist betitelt das prinzip der lokalität. Auch er enttäuscht nicht, seine Mischung aus Gedichten, Bildern, Ableitungen macht Spaß.

„jede empfindung unter-
schlägt einen traum“

Waldrops Welt („Meine kompromisslose Unsicherheit“) aus Rosmarie-Anekdoten, Philosophiesnippets, Spatzen, Elstern, Meta-Alltag füttert sich u.a. aus Hegel, Schopenhauer, einer Katze namens Pinkelpfote und viel Musik, Smetana, Lassus, Skrjabin. Letzterer vertreten mit dem Weltvernichtungsakkord, der ihm nicht vergönnt ward anzuschlagen: „Skrjabin glaubte an eine endgültige Harmonie, die die Welt zerstören und das Ende des Daseins bedeuten würde. Spiele den richtigen Akkord am richtigen Ort zur richtigen Zeit, und der ganze Kram würde zusammenbrechen. // Und er bereitete sich darauf vor, diesen Akkord zu spielen, als ihn eine Blutvergiftung niederstreckte.“

Das Thema der Ideengeburt, des Feuerfangens ist ein Fixpunkt von das prinzip der lokalität. So kommt der Band immer wieder auf mögliche (und unmögliche) Inspiration zurück:

„einmal in wien,
etwas verirrt, auf der Suche nach den Straßen, auf denen ich gekommen war, fand ich mich an der Kreuzung von Fichte und Hegel wieder. An diesem Punkt war – wie vorauszusehen – absolut nichts zu finden“

worauf unversehens eine interessante Hegelübersetzung folgt:
„Hegel:
»Der Mensch, insofern er wirklich sein will, muß dasein, und zu dem Ende muß er sich begrenzen. Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kommt zu gar keiner Wirklichkeit, sondern er verbleibt im Abstrakten und verglimmt in sich selbst.«“ wird zu:
„Hegel:
»People who are too fastidious towards the finite never reach actuality, but linger, lost in abstraction, and their light dies away«“, womit die Stimmung dieses Bands bestens eingefangen wäre.
Insgesamt mit Nachdruck empfehlenswert ist jene Trilogie. Die grafische Aufbereitung fügt sich zur Bildwelt des Dichters, wie auch die Verwendung von dessen eigener Bildkunst, mehrheitlich Collagen, Fotofotos, die Bände nicht beengt. Mitsamt seiner durchgehend ausgewogenen Übersetzung, zudem zweisprachiger Abdruck, ergibt sich ein Statement ohne jeden Hänger, dem hoffentlich die verdiente Beachtung widerfahren wird. Dem deutschen Lyrikmarkt für Übersetzungen wäre noch mehr solch verlegerisches Engagement zu wünschen.

Jonis Hartmann

Keith Waldrop. Trilogie. Gutleut Frankfurt 2023
www.gutleut-verlag.com