27. Februar 2023

Radikaler Pluralismus

 

Wozu Metaphysik?

Es wäre schön, wenn wir gemeinsame Ziele hätten. Dafür gäbe es wirklich genug Projekte. In einem Land zu leben, in dem nicht länger Menschen, die nie auch nur eine Zeile Virilio gelesen haben, mit ihren insektengesichtigen Audis pfeilschnell im Rückspiegel auftauchen. In dem Kinder Zugang zu Bildung haben, egal welchen Zugang ihre Eltern hatten.


Aber brauchen wir auch gemeinsame Werte und Gründe? Dass beispielsweise die Motivation, die Schöpfung zu bewahren, aus religiöser Überzeugung stammen kann, aus Mitleid mit den Kreaturen oder aus forstwissenschaftlicher Expertise, schafft ein schönes Bündel unterschiedlicher Motive. Und wenn alle weniger Fleisch äßen, könnte es am Ende Wurst sein, ob es vor einem ästhetischen, politischen, philosophischen oder religiösen Wertehorizont geschieht.


Was ist also davon zu halten, wenn der New Yorker Philosoph Omri Boehm Gerechtigkeit und Wahrheit als universelle Werte (wieder)einsetzen will? Die Zerreißproben zwischen Trump-Wiederwahl und Identitätspolitik veranlassen ihn, sich um die Wertgemeinschaft der amerikanischen Nation zu sorgen. Im internationalen Wettbewerb bemesse sich „die Kraft der Werte, für die wir außenpolitisch stehen, an der Integrität, mit der wir diese Grundsätze im Inneren vertreten.“ Dass das nicht wirklich gelingt, sei einer der Gründe, „warum sich nicht nur ein ehemaliger US-Präsident, sondern weite Teile der Republikanischen Partei für Putin begeistern.“ Soll heißen: Nicht nur Boehms eher linke Studenten, sondern auch ultrarechte Republikaner zweifeln völlig zu Recht am Zustand der amerikanischen Demokratie. Und aus europäischer Sicht lässt sich hinzufügen, dass inzwischen eine Querfront gegen demokratische Verfahren polemisiert, die den Linken zu behäbig sind, um globale Krisen zu bewältigen, den Rechten zu links und zu global.


Omri Boehm tritt der Unordnung in seinem Essay „Radikaler Universalismus, Jenseits von Identität“ entschieden mit metaphysischen Instrumenten entgegen. Er beschwört darin zwar nicht unmittelbar die Wiedereinsetzung religiöser Autoritäten, aber seine Argumentation hängt sich eng an alttestamentarische Motive und folgt einer ganz eigenen Auslegung davon, die man auch erst mal glauben muss.


„Wozu Wahrheit?“ wurde einmal ein Debattenband der Philosophen Richard Rorty und Donald Davidson betitelt. Rorty argumentiert darin als Neopragmatist, der die Wahrheitsfrage am liebsten auf sich beruhen lassen möchte, um sich dem Leben der Menschen zuzuwenden, das nämlich wirklich zählt, während unsere Meinungen sich immer nur auf andere rechtfertigende Meinungen zurückführen lassen und so fort. Letzten Endes könne Wahrheit niemals etwas anderes sein als ein Für-wahr-Halten. Am tiefsten Grund unserer Überzeugungen finden wir kein allen zugängliches, verbindliches Weltwesen vor, sondern allenfalls biografische, konventionelle, letztlich zufällige Haltungen und Einstellungen, ein Sosein für uns, und jeder sein Sosein für sich.


Donald Davidson will demgegenüber einen starken Wahrheitsbegriff nicht aufgeben, was auch Boehm auf andere Weise anstrebt. Nur hätten Davidson wie Rorty angesichts dieses Essays einvernehmlich gefragt: Wozu Metaphysik?!


Boehms Buch fand sich inzwischen auf einer Sachbuch-Bestenliste; vielleicht liegt es an seinem plakativen Einspruch gegen die Identitätspolitik, dass sich bei all der Aufmerksamkeit so wenig Kritik an seinem Engagement für vormoderne Verhältnisse gerührt hat.


Aufklärung ohne Moral  

Den Kern der Argumentation bildet eine eigene Sicht auf die Aufklärung. Boehm meint, der ethische Universalismus, der sich in dem Satz „All men are created equal“ niederschlägt, sei gerade kein Ergebnis der Aufklärung, sondern konterkariere ihre Ideen sogar. Unter Aufklärung versteht er allein den wissenschaftlich-technischen Wandel in der Neuzeit, den Triumph der empirischen Wissenschaften, der in moralischer Hinsicht Heimatlosigkeit und Nihilismus ausgelöst habe.


Damit stimmt er in eine Klage über den Positivismus in der Moderne ein, die schon im 19. Jahrhundert als Kritik an der vermeintlich entfremdenden Zivilisation vorgetragen wurde, woraus sich eine ganze philosophische Tradition speiste, bis zur „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno. Wie sie hebt auch Boehm den instrumentellen und destruktiven Charakter der Rationalität hervor, wenn er etwa eher nebenbei formuliert: „soweit der europäische Faschismus und Auschwitz … Produkte der Aufklärung waren“. Mit dem analytischen Horizont der Dialektik der Aufklärung kann sich dieses Motiv freilich nicht messen.


Der moralische Universalismus lasse sich nicht ohne Rückgriff auf ein „vormodernes, metaphysisches Weltverständnis“ erläutern – ist die zentrale Folgerung Boehms nach seiner „De-Moralisierung“ der Aufklärung. Mit einer eigenwilligen Interpretation macht er sich dabei auch einen Gedanken von Jürgen Habermas zu eigen. Der hatte gefordert, in einer zunehmend szientistischen Welt müsse auch den religiösen Teilnehmern Gehör verschafft werden, um das ethische Potenzial der ihrer Glaubensinhalte auf einer politischen Ebene zugänglich zu machen. Das erfordert Vermittlung und Übersetzung. Der ethische Gehalt religiös geprägter Beiträge ist mit dem öffentlichen Vernunftgebrauch sonst inkommensurabel. Habermas richtet sich also an die säkularen Diskursteilnehmer, sie sollen sich „für einen möglichen Wahrheitsgehalt religiöser Beiträge öffnen und sich auf Dialoge einlassen, aus denen die religiösen Gründe möglicherweise in der verwandelten Gestalt allgemein zugänglicher Argumente hervorgehen.“ Damit gelangt Habermas keineswegs zu einer metaphysischen Moralbegründung. Für ihn hat die „weltanschaulich neutrale Ausübung politischer Herrschaft“ immer Vorrang. Von einer säkularen Aneignung der Glaubensperspektive kann dabei keine Rede sein. Dies unterstellt Boehm jedoch, der sich aber auf die Seite der Metaphysik schlägt und die moderne universalistische Ethik gleich mitzieht. Der Universalismus selbst sei womöglich nicht diskursiv zu integrieren, stellt er fest: „Was aber …, wenn das, was sich der Übersetzung entzieht, die Idee des Universalismus selbst ist?“


Metaphysikkritik sollte kein Fetisch sein und Metaphysik kein Tabu. Postmetaphysische Ethik ist keine Laune wissenschaftsfanatischer Positivisten (obwohl bei Schlick und Carnap in den 1930er Jahren auf die Spitze getrieben). Metaphysikkritik, von Kant bis Habermas, legt Gründe offen und weist autoritäre Setzungen zurück. Moral ohne Rückgriff auf metaphysische Letztbegründung zu legitimieren, gehört zu den universalistischen Projekten der neuzeitlichen Philosophie unter dem Vorzeichen des Pluralismus von Glaubensfragen.


Für Ernst Tugendhat, dessen Philosophie jahrzehntelang darum kreiste, ist „der Egalitarismus eine sei es notwendige, sei es plausible Folge der Aufklärung, des Selbstdenkens,“ das sich im fünften vorchristlichen Jahrhundert bei den Griechen schon einmal durchgesetzt hatte und in der neuzeitlichen Moderne erneut. Dabei ist Tugendhat anders als Omri Boehm überzeugt, dass der Universalismus der Aufklärung gerade nicht an den frühen Universalismus der religiösen Tradition anknüpft. Der Egalitarismus wird hier ja für „selbstevident“ erklärt, nicht für gottgegeben. „Worin bestand und besteht diese Evidenz?“, fragt Tugendhat. „Und wieso erscheint uns der Egalitarismus auch heute noch … als ,unhintergehbar‘?“ Die Antwort wird durch das aufgeklärte Selbstdenken gegeben, weil unter Bedingungen des Selbstdenkens die moralischen Gefühle des Teilhabens und der Verteilung, also der Gerechtigkeit innerhalb von Gemeinschaften derart leitend sind, dass nicht die Gleichheit, sondern jede Abweichung davon begründet werden muss.

Tyrannei der Mehrheit

Boehm bezweifelt die Möglichkeit einer autonomen Moralentwicklung aus der sozialen Bindung des Menschen. Diese versteht er selbst als Ursache moralischer Heteronomie. Und er stellt auch das Selbstdenken unter einen Vorbehalt. Was heißt es eigentlich mit Kant, „selbst zu denken?“, fragt er. Es mache „einen doch stutzig, dass die Frage nicht öfter oder wenigstens überhaupt einmal gestellt wird“. Denn die Befreiung aus selbst verschuldeter Unmündigkeit sei letztlich eine Leistung, die nicht jeder erbringen könne. Auch nach Kant müsse Aufklärung erst „durch Wenige“ erreicht werden. Genau genommen beziehe sich die von Kant beklagte Unmündigkeit gar nicht auf das mangelnde Selbstdenken, sondern auf eine mechanische und tote Denkweise – auf die „Neigung zur Konformität“. Die soziale Bindung hindert daran, autonome ethische Entscheidungen zu treffen.


Damit bringt Boehm das praktische Legitimationsproblem des moralischen Universalismus ins Spiel.


Auf dem Papier der Schöpfung mögen alle gleich und ebenbürtig sein, die Realität der Geschöpfe ist eine andere. Der Schluss liegt nah, dass der Universalismus der frühen Demokraten gar nicht „alle“ gemeint hat, sondern dass „Amerikas Gründerväter Sklavenhalter waren, dass Kant selbst ein Rassist war, dass das Wort „,men‘ in ,all men are created equal‘ buchstäblich Männer meint und nicht Menschen, und zwar ausschließlich weiße. Kurz gesagt, dass der aufgeklärte Universalismus bestenfalls eine verlogene Ideologie ist, die den Glauben an die weiße Überlegenheit duldet, und im schlimmsten Fall ein rassistisches Instrument …, um zu kolonisieren, auszubeuten und zu versklaven“.


Tatsächlich verweist das Stichwort „Tyrannei der Mehrheit“ in der amerikanischen Demokratie-Tradition auf die Furcht der Gutsituierten: „Der Liberalismus behauptete, dass die liberal verstandenen Menschenrechte tatsächlich im Interesse aller seien, und das gelang ihm, indem er einfach die Augen davor verschloss, dass erstens die Besitzlosen von ihrer negativen Freiheit ... keinen Gebrauch machen können und dass zweitens die übrigen Randgruppen überhaupt existieren, was dadurch erleichtert wurde, dass Kinder, Frauen, Alte, Behinderte einfach als Anhängsel der männlichen erwerbsfähigen Personen und nicht als eigene Rechtssubjekte angesehen wurden,“ so Ernst Tugendhat. Und entsprechend steht etwa das Menschenrechtskonzept noch heute im Verdacht des Eurozentrismus: Der reiche Norden beklagt Menschenrechtsverletzungen immer dort, „wo seine rücksichtslose Wirtschaftspolitik ein menschenwürdiges Leben erschwere – in den von Kolonialgewalt und Ausbeutung gezeichneten Ländern des Globalen Südens. ... Sind die Menschenrechte am Ende gar nicht universell?“ (Christian Staas, „Die ZEIT“, 52/22)


Manches an solchen Vorwürfen, die auch seine Studenten erheben, versucht Boehm zu entkräften. Doch auch ihn beunruhigt, dass der „Wir-Liberalismus“ der nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg vereinten Nation auf einem konformistischen Konsens beruht, der Minderheiten ausschließt. Stets überstimme und verdränge dabei die Demokratie die Wahrheit und jede höhere Gerechtigkeit. „Der Liberalismus besteht … im ,Vorrang der Demokratie vor der Philosophie‘“. Das einzige absolute Prinzip daran sei „der menschliche Wille“, was schließlich dazu führe, „dass sich der moderne Liberalismus nicht viel anders zur Wahrheit verhält als die Tyrannen: indem er ihre Autorität über den Willen des Souveräns ablehnt – in diesem Fall den des Volkes.“

Vermutlich geht es Boehm um die Feststellung, dass der Einzelne nicht das Maß aller ethischen Dinge sein sollte. Er nimmt den losgelassenen Liberalismus ins Visier, Egoismus und robuste Interessenwahrnehmung. Doch hierzulande wecken solche Aussagen auch sofort Assoziationen an Kampfbegriffe wie „Demokratur“, von Pegida-, Querdenker- und anderen zynischen Ultras gegen vermeintliche Eliten gerichtet. Für die US-Gesellschaft lässt sich immerhin beobachten, dass die Republikanische Partei sich geriert, als verträte sie bereits die ganze Menschheit, und in Israel, über das Boehm an anderer Stelle auch geschrieben hat, schafft die Regierung gerade ein Gesetz, das es der Parlamentsmehrheit ermöglichen soll, höchste Gerichtsurteile aufzuheben.


Hier liegt ein strukturelles Legitimationsproblem des liberalen Universalismus. Die Glaubwürdigkeit der liberalen Ethik steht infrage, wird aber nichtsdestotrotz blind gelebt, so Boehm. All das ruft die Identitäten auf den Plan.

Prä- statt Postmoderne

Die Politikwissenschaftlerin Barbara Walter nennt als größte Risikofaktoren für politische Gewalt und Bürgerkrieg eine schwache Demokratie, und „zum anderen wird es gefährlich, wenn sich die Bürger eines Landes politisch nach Hautfarbe, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit organisieren“ („Die ZEIT“, 1/23). Genau das meint Identitätspolitik. Deren Protagonisten verfolgen eher keine universalistischen, sondern partikularistische Ziele (allerdings nicht notwendigerweise: Der emanzipatorische Kampf kann schließlich den Rechten einer bestimmten Gruppe gelten und trotzdem auf Allgemeinheit zielen. Manchmal vertagen Partikularisten den Universalismus auch auf eine Zeit nach der Unterwerfung oder Vernichtung des Gegners).


Boehm nennt sie Identitätsliberale, was bereits zeigt, dass er Identität gar nicht für eine echte Alternative zum liberalen Universalismus hält. Im Gegenteil: Der gelebte Universalismus selbst sei nur eine Form von Identitätspolitik und somit im eigentlichen Sinn auch Partikularismus. Zwar nicht der von schwarzen Menschen, LGBTQ-Vertreterinnen, Feministen oder Angehörigen anderer Minderheiten, sondern der von all jenen, „die eine politische Debatte mit dem Ausdruck, wir Amerikaner‘, ,wir Deutschen‘, ,wir Israelis‘ beginnen“. Wenn also die liberale Kritik an der Identitätspolitik meint, dass deren Vertreter den Wir-Horizont aufgegeben hätten, greife das viel zu kurz. Wahre Universalisten, so Boehm, sollten sich auf nichts als Wahrheit beziehen und nicht auf den Konsens ihrer jeweiligen Gemeinschaften. Eine solche Orientierung am Wahren lehnten aber beide, „die identitäre Linke und die liberale Mitte als metaphysisch ab“.


Obwohl natürlich vieles dagegen spricht, hat auch für Omri Boehm „die Postmoderne“ dem Verlust der einen Wahrheit den Weg geebnet und damit der Identitätspolitik von Links und Rechts, Postkolonialismus, Critical Race Theory oder etwa auch dem Kampf für „traditionelle Werte“.


„Nachdem die Wahrheit, die die Menschheit verband, ausgemustert wurde“, schreibt Boehm, „besteht zwischen Wir-Liberalismus und Identitätspolitik keine klare Grenze mehr“.


Zur Erinnerung: Es ist eine Errungenschaft der Postmoderne, Fenster und Türen unzugänglich gewordener Diskursräume der Moderne geöffnet zu haben. Skeptisch legten ihre Vertreter Widersprüche von Großtheorien der Neuzeit frei, die nicht mehr mit der gesellschaftlichen Realität interagierten. Sie erweiterten das ästhetische Spielfeld und schufen heuristische Glücksoptionen. Wer solch eine notwendige Bewegung ins Freie ungeschehen machen will, wie Boehm es im Sinn hat, muss gute Gründe haben. Auch Habermas, der in seinem Text „Die Moderne, ein unvollendetes Projekt“ (1980) der Postmoderne ein antiaufklärerisches Stigma angehängt hatte, suchte später den Austausch mit Derrida.


Es wäre schließlich auch verfehlt „die“ Postmoderne etwa für das lustvoll schamlose Lügen eines Donald Trump haftbar machen zu wollen, denn politische Propaganda wurde ja nicht erst am Ende des 20. Jahrhunderts erfunden. Auch Putins Mantra eines „antifaschistischen“ Bombenkriegs gegen die Ukraine ist kein Produkt einer postmodernen Inflationierung der Wahrheitswerte, sondern steht in einer langen Tradition der Verklärung von aggressiven Machtinteressen.


Kritiker der Postmoderne werfen ihr Unernst und Relativismus vor, die den Weg für „Alternative Fakten“ geebnet hätten. Und so kann sich auch Boehm mit seiner Rekonstruktion der einen Wahrheit auf eine lange philosophische Tradition berufen, in der WAHRHEIT großgeschrieben wurde. Die Philosophie sei mit dem Anspruch aufgetreten, meinte einmal John Dewey, „ein besonderes Organ des Zugangs zur höchsten und letzten Wahrheit zu sein.“ Doch das sei sie gerade nicht, „und sie wird ihren esoterischen und unaufrichtigen Charakter nicht verlieren, bis dieser Anspruch aufgegeben ist“.  Diese Vorstellung, Wahrheit sei eine nichtkausale und zeitlose Beziehung, verabschieden auch Rorty und Davidson. Aber schon eine Säkularisierung des Wahrheitsbegiffs, wie sie John Rawls gefordert hat, als er schrieb, dass „die Wahrheit einer unabhängigen metaphysischen und moralischen Ordnung […] in einer demokratischen Gesellschaft keine brauchbare gemeinsame Basis für eine politische Gerechtigkeitskonzeption darstellen“ kann, lehnt Boehm ab. Offenbar hält er diese Aussage des bedeutendsten Denkers des Liberalismus für unvereinbar mit der Formulierung aus der Unabhängigkeitserklärung: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich …“. Ein Widerspruch, der allerdings nur in Boehms eigenem, metaphysischen Wahrheitsverständnis gründet.


Omri Boehm postuliert eine Wahrheit und Gerechtigkeit, die nicht von Menschen formuliert wurden, ein erstaunliches Retro-Projekt, das zurückweist auf die platonische Antike (nach Herbert Schnädelbach das „ontologische Paradigma“ der Philosophiegeschichte).


Nun garantieren metaphysische und religiöse Überzeugungen ja keinesfalls die Beachtung von universellen Menschenrechten, wie die dauernde Verfolgung Andersgläubiger belegt. Die Gesellschaften des ausgehenden Mittelalters haben auf die blutigen Glaubenskämpfe mit Liberalisierung reagiert. Sie gewährten Glaubensfreiheit, stellten die Konfessionen unter den Schutz der Obrigkeit und forderten im Gegenzug wechselseitige innergesellschaftliche Toleranz.


Folgt man Omri Boehm, muss mit der schwindenden öffentlichen Geltung metaphysischer Gewissheiten auch die Grundlage der Moral verloren gegangen sein. Dabei ist das einzige, was zur Herstellung und zum Erhalt einer juristisch und politisch säkularen Moral nötig ist, die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz jedes Einzelnen, so der Philosoph Martin Seel („Ist eine rein säkulare Gesellschaft denkbar?“). Und diese Fähigkeit ist nicht an ein religiöses Bewusstsein gebunden. 

 
Die von Boehm geschmähten modernen und postmodernen Denkschulen verbindet die Einsicht, dass der Zug zur reinen Wahrheit sozial nicht fruchtbar ist. Habermas wendet sich gegen den Triumphalismus der Aufklärung. Rorty empfiehlt liberale Ironie. Die Begründer der liberalen Demokratien erteilten absoluten Werten eine Absage. Boehm verkennt, dass der demokratische Konsens metaphysische Wahrheit nicht aus-, sondern einschließt.


Der innergesellschaftliche Streit ums Wahre und Richtige, die Aufmerksamkeit für das, was plausibel und begründet ist, das Groundwork der Politik und der Öffentlichkeit also, gilt Boehm dagegen als oberflächliches Kleinklein. Dass die „New York Times“ wegen Donald Trump erstmals in ihrer Publikationsgeschichte von der Praxis abwich, das Wort Lüge nicht zu verwenden; die Sperrung von Konten auf Twitter und Facebook wegen Verbreitung von Falschaussagen, all das ist für Boehm bloß ein „heiliger erkenntnistheoretischer Krieg“. So setzen etwa Faktenchecks für ihn eine Ebene zu tief an. „Die Glorifizierung der Tatsachen dürfte auch dazu dienen, tiefere Fragen über die Wahrheit und ihr Verhältnis zur Politik zu verdecken und von dem Verdacht abzulenken, dass die Wahrheit in einem anspruchsvolleren Sinn des Begriffs unterdrückt worden sein könnte“, raunt er. „Nicht nur populistische und nationalistische Politiker nutzen ,falsche Tatsachen‘ als Waffe, um die Wahrheit anzugreifen; nicht nur postmoderne Linke attackieren die Wahrheit mit den neuesten Theorien des Postkolonialismus oder der Critical Race Theory. Wenn es … um Gerechtigkeit geht …, behandeln auch moderne Liberale die Wahrheit als genau das: als einen Volksfeind.“


Man könnte die Sache auch etwas tiefer hängen und einfach sagen: Wer politische Ziele verfolgt, dem sind unter Umständen auch manipulative Mittel recht. Dagegen setzen funktionierende Demokratien eine Kontrolle durch stabile Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, freie Presse, Bildung und Medienkompetenz. Wenn ein Medienunternehmen wie die Trump-nahen „Fox News“ eine Korrespondentin mahnt, Faktenchecks schädigten das Unternehmen und ließen den Aktienkurs sinken (FAZ, 21.2.23), ist die Macht des Neoliberalismus zu groß geworden. Um das zu regulieren, bedarf es aber keines außerirdischen Wahrheitsbegriffs.


Boehms Gleichsetzung der liberalen Gesellschaft mit den Methoden ihrer Gegner verwischt den Unterschied zwischen beidem und betreibt damit das, was er der Postmoderne vorwirft: Gegenaufklärung. Und wenn Boehm davor warnt, dass abweichende Haltungen auch in liberalen Gesellschaften oft als „wahnsinnig“, also nicht diskursfähig stigmatisiert werden, wird die Bedeutung der von Jürgen Habermas eingeklagten Übersetzungsleistung klar – interessanterweise erweist sich Boehm selbst als Autor, der eine solche Leistung in Anspruch nehmen muss.  

In Gottes Namen

Seine Argumentation verankert Omri Boehm in der Metaphysik, indem er sich einer Hermeneutik der Heiligen Schrift zuwendet, er legt Textstellen aus, stellt eigene Thesen dazu auf, spekuliert über Autorschaft, resümiert Expertenmeinungen und düpiert damit auch manche philosophische Leseerwartung. Hier wird den Narrativen der Bibel eine nicht bloß exemplarische, sondern explizite Bedeutung zugesprochen. Da mit Boehms Deutung einiger Bibelabschnitte seine Argumentation steht und fällt, erweckt er den Eindruck, eine einzig richtige Lesart dechiffriert zu haben. Nun ist aber für einen sakralen Text charakteristisch, ja „ausgemacht“, so der Literaturwissenschaftler Gerhard Poppenberg, „dass er unendlich mehrdeutig und deshalb unendlich auslegbar ist“. „Das kann so weit gehen, dass ganz widersprüchliche Deutungen möglich sind.“ Keine Spur davon bei Boehm. Seine Argumentation setzt die Autorität der Heiligen Schrift schon voraus, die sie eigentlich bekräftigen will. Und diese Forcierung hat einen gegenteiligen Effekt: Sie macht skeptisch.


So unterscheidet Boehm peinlich zwischen Jahwe und Elohim – zwei Namen des Gottes, aber die Gebote des einen entsprechen für Boehm gar nicht Gottes Wort, sondern dem gesellschaftlichen Konsens – der, wir erinnern uns, der wahren Wahrheit im Wege steht. Nur der zweite Gott ist Gott. Da fragt sich auch der Laie, warum die Autoren den Begriff Gott gewählt haben, wenn sie eigentlich Volkes Stimme meinten.


Boehms zentrale Begriffe sind die der Prophetie und des Ungehorsams, Gewährsleute dafür sind Abraham und Isaac. „Abrahams höchste Form der Prophetie besteht darin, dass er sich der Wahrheit und nicht dem Konsens unterwirft – dass er ,Gott‘ widerspricht und den Widder opfert statt seines Sohnes“. Man müsste hier „Wahrheit“ durch „Gott“ ersetzen und „Gott“ durch „Menschengesetz“, um vollständig zu verstehen, was Boehm will. Am Ende erfüllt diese begriffliche Rochade den einzigen Zweck, den Ungehorsam gegen jedwedes Gesetz nicht autonome Ethik oder gar Aufklärung nennen zu müssen. Denn Boehm meint: „Paradoxerweise ist Selbstdenken, die Zurückweisung der Autorität anderer, nur möglich, indem man einem höheren Gesetz folgt, das nicht menschengemacht ist.“


Doch nicht nur die „Autorität anderer“ zu hinterfragen forderte die Aufklärung, sondern die Autorität der Tradition und der Religion. Ebenjener „höheren Gesetze“, die Boehm nun wiedereinsetzen möchte.


„Ein Prophet ist derjenige“, zitiert Boehm Spinoza, „,der das von Gott Offenbarte denen verdolmetscht, die eine sichere Erkenntnis des von Gott Offenbarten nicht haben.‘“ Aufklärung hängt „von einer gewissen Form der Prophetie ab“. Es braucht Menschen, die es sich zur Aufgabe machen, für das Gute und Richtige öffentlich zu werben, könnte eine postmetaphysische Übersetzung lauten. Aber wenn nicht jeder zum Selbstdenken befähigt ist und nur manche Menschen die Gabe der Prophetie besitzen, muss gefragt werden, wie diese Berufenen den universellen Verblendungszusammenhang, den ja die „Dialektik der Aufklärung“ einmal diagnostiziert hatte und der hier in der Gestalt der sozialen Konformität zurückkehrt, überwinden konnten. Die Einbildungskraft soll das zentrales prophetische und politische Vermögen sein – eine rein formale und keine inhaltliche Kraft. Wie ist also zu verfahren, wenn sich Propheten widersprechen? Nicht einmal ansatzweise geht Boehm auch dem naheliegenden Gedanken nach, wie wir echte von falschen Propheten unterscheiden können. Wie zeigt es sich dem geneigten Metaphysiker, dass die Stimmen, auf die er vertraut, nicht die Twitterkohorten Trumps und Putins sind oder die Flüsterstimmen einer untergründigen kapitalistischen Manipulation?


Inzwischen gibt es ja eher eine Tendenz zum unhinterfragten Nonkonformismus. Das Engagement Prechts und Welzers für freie Rede etwa scheint von dem ganz mechanischen, reflexhaften Gedanken getrieben zu sein, Philosophie dürfe doch nicht einfach affirmativ zustimmen. Das vorwissenschaftliche Pendant dazu ist die Polemik gegen gleichgeschaltete Mainstream-Medien und ihre schlafwandelnde Gefolgschaft. Für das Ideal des sperrigen Selbstdenkers steht eher Martin Luther als Martin Luther King Pate. Ihm wird die Kernformel des Protestantismus zugeschrieben: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – eine Forderung nach äußerer Freiheit, die sich auf eine maximale innere Unfreiheit beruft. Bedauerlicherweise lassen sich mit inneren Notständen aber auch Nötigungen zementieren, die das Zusammenleben ganzer Gesellschaften belasten. In den USA sind durch religiösen Fundamentalismus bereits viele vom Verlust von Bürgerrechten betroffen.


Boehm versucht, die Identitätspolitik metaphysisch zu überbieten, um der Kritik seiner Philosophiestudenten etwas entgegenzusetzen. Fruchtbarer wäre es, ihnen eine säkulare Moralbegründung an die Hand zu geben, wie sie von Tugendhat und anderen plausibel entwickelt wird. Und für die Reparaturarbeit an der gealterten Demokratieidee gibt es inzwischen auch Tools wie Bürgerkonferenzen, neue Verteilungsschlüssel bei Wahlen, Künstliche Intelligenz.


Radikaler Pluralismus und eine Verbreitung der Basis von Menschenrechten, ihre Anerkennung durch alle und ihre Verankerung in positivem Recht könnten die passenden Antworten auf Identitätspolitik sein. Dass das staatsbürgerliche „Wir“ überhaupt erst ersonnen wurde, „um sich der Verpflichtung gegenüber der Menschheit zu entledigen“, ist ein Kurzschluss Omri Boehms. Auch wenn die Hoffnung des italienischen Philosophen Norberto Bobbio aus einer Zeit, in der die Demokratien weltweit auf dem Vormarsch waren, heute sehr optimistisch klingt: dass die nationalstaatlich begrenzte Anerkennung vieler Menschenrechte nur eine Etappe sei auf dem Weg zum Wir der Menschheit.

Ralf Schulte

Omri Boehm: Radikaler Universalismus – Jenseits von Identität. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 155 Seiten, 22 Euro