7. November 2022

Zeit zernagt



„In Xanadu did Kubla Khan...“ So beginnt eines der bekanntesten Gedichte (obgleich Fragment) von Coleridge, einem der fünf englischen Romantiker, der letztlich zwar hinter dem Ruhm eines Keats, Lord Byrons etc. geblieben, jedoch seinen Platz sicherte, nicht zuletzt durch jenen unter Drogen-(Schmerzmittel) Einfluss entstandenen Text – wohl delirös gedichtet und dann erinnert-aufgeschrieben. Dieses und nicht zu vergessen das Langgedicht The Rhyme of the ancient Marriner, eine prä-fontaneske Schauerballade, bilden mit Christabel, ähnlich gelagert, den lyrischen Kern des ansonsten eher im Leben glänzenden Künstlers Samuel Taylor Coleridge – gebildet, unterhaltsam, schlagfertig. Alle drei und dazu eine Auswahl kürzerer Gedichte (bei denen verslich der Term „Trance“ interessanterweise Konjunktur hat bzw. häufiger fällt) hat Florian Bissig ins Deutsche übertragen, soeben bei Dörlemann erschienen. In herausgeberischer Hinsicht eine fällige Veröffentlichung, die insbesondere durch Vorwort, Nachbemerkung, Gedichteglossar an Format gewinnt. Zu erfahren ist unter anderem, dass Coleridge zeitlebens an seinem Talent als Dichter zweifelte und seine romantisch-schwärmerische Lyrik, auch die bekanntere, noch eher jung im Werk verfasste, sowie später von seinem Freund und ungleich erfolgreichen Kollegen Wordsworth aus dem Parnaß ausgespannt wurde. Coleridge wählte den Rückzug ins Weite (der Wissenschaft, Theologie und tausenderlei Dinge, nur nicht Lyrik: „Am Plapperquell von eitlem Wissensdurst“).

Tatsächlich fehlt den Gedichten (außerhalb der drei Klassiker) oft so etwas wie eine Unverwechselbarkeit in der Stimme im Verhältnis zu ihrem Inhalt. Das Ornamentale ihres Vortrags wird von Bissig hervorragend übersetzt in dem Sinne, dass Coleridges Hang zum Verstecken in den Konventionen von Zeitgeist auch in der deutschen Übertragung sichtbar wird. Die häufig zehn- oder elfsilbigen Gedichte werden – im Vorwort klargemacht – mit nahezu alleinigem Augenmerk auf die rhythmische Reproduktion übersetzt. Das heißt, dass Bissig die beiden Sprachen rein quantitativ gleich behandelt, was informationsdichtehalber mit einem Verlust einhergeht. Nicht zu vergessen, ist das Englische enger im Verhältnis zum Deutschen, gemessen an Bedeutungen je Silbe. Somit entsteht zuweilen ein pflichtschuldiges Wegdrücken von Tönungen, Färbungen, Wendungen oder ein Griff in ein ferneres Register, um die selbst gesetzten Ziele zu erhalten. Wer darüber hinwegsehen kann, wird insbesondere im Ancient Marriner und Christabel, die eine befreite Form besitzen, zudem mit dem „Argument“ am Rand als Zusammenfassung arbeiten, auf einen guten Lesefluss kommen. Hier zeigt sich Coleridge als wissender oder fast parodistischer „Märchenonkel“, der etwas mitgebracht hat, so wie der alte Marriner im Gedicht selbst auf einem Hochzeitsfest seine Mär von Sünde und Buße an einem Albatros zum Besten gibt („Er verachtet die Geschöpfe der Kalme“) und im Sinn eines Lehrgedichts am Ende eine Tugendsteigerung der Gäste vorliegt.


„Und was, wenn alle Wesen der Natur / Nur mannigfache Lebend-Lauten wärn.“ Coleridge rückt mit In Xanadu hierzulande näher. Dank der zweisprachigen Ausgabe wird es bestimmt eine Leserschaft geben, die Bissigs rhythmische Sportlichkeit sofort im Geiste andickt beim Lesen und ihrerseits versucht, in die komplexen Silbensysteme einzutauchen, oder sie zugunsten der Poesie vielleicht sogar über Bord wirft – die man bei Coleridge aber, wie nicht nur von ihm selbst angedeutet, vielleicht zum Teil vergeblich sucht – und schlussendlich zu Bissigs sämtlichen Übertragungsentscheidungen zurückfindet.

Jonis Hartmann


Samuel Taylor Coleridge: In Xanadu. Dörlemann Zürich 2022