9. September 2023

Willkürliche Muskeln


„Da kommt ein Mensch, der wie eine rostige Schere geht, und zieht ein Stück einer zerfledderten Tageszeitung aus dem Papierhaufen.“


„Dann werden auch die hässlichsten, banalsten, seltsamsten, längst vergessenen, nutzlosaberzuschadezumwegwerfen Dinge ausgegraben und in die Bambuskörbe gestopft.“


„Ruckzuck mache ich es mir auf dem Sofa bequem, ohne die Absicht wieder aufzustehen. Sobald ich sitze, nehme ich Kontakt mit dem Fernseher auf und stoße auf eine Serie namens Super-Supermarkt.“


„Auf dem Umschlag steht mein Name, nämlich Aguo; außerdem meine Adresse, nämlich Mohrrübenbau, Hinterhaus Block B, 11. Stock Nr. 12, Kohlkopfstraße 199, Bezirk Grünwäldchen.“

Mit einem (von vielen) Helden namens Mike Munter, der Telefondrähte verlegt, Anlagen repariert, mit Schildern, auf denen steht, man solle die Parkbänke nicht beschimpfen, einer Menge weiterer Sinnblitze heftet sich Xi Xis Meine Stadt zu einem turbulenten literarischen Porträts Hongkong in den ausgehenden 70er Jahren zusammen. Die sehr offene Schreibweise, kombiniert mit kleinen Zeichnungen, die wie Embleme den Textfluss unterstützen, schraubt diesen bedeutenden chinesischen Roman durch seine Symbolarbeit. Genau beobachtet, ziemlich kurzweilig, dabei jedoch rätselhaft ungreifbar zwischen Zimmerleuten, Strippenziehern, Ereignissen, Schiffsreisen.


„(Aguo, ich wünschte, ich wüsste, was Du gerade machst. Macht Deine Arbeit Spaß? Schade, dass es so schwierig ist, Briefe von Dir zu erhalten, selbst wenn Du mir schreibst. Mein Schiff ist jeden Tag woanders.)“


Karin Betz hat den bei Suhrkamp kürzlich erschienen (damals als Fortsetzungsgeschichte veröffentlichten) Romanklassiker recht spritzig wie mutig übersetzt, dazu mit einem Nachwort versehen, das die Komplexität in der Anlage erst deutlich macht. Aus ihrem Nachwort: „Auch wenn Meine Stadt Wohnungsnot, Hunger, Flucht, Krieg, Rassismus oder kollektiven Selbstmord beschreibt: Das Urteil bleibt immer dem lesenden Beobachter überlassen. Die Realität wird an ihrer eigenen Absurdität gemessen, und das Phantastische wird wie Sand ins Getriebe des Realen geworfen, vor dem wir staunend stehen.“


Meine Stadt ist ein subtiles Kommunikationsbuch, mit schrägen Ideen wie „Die neuen Instant-Romane des Apfelbuchverlags sind daher eine herausragende Erfindung“. Das Satirische verbindet sich hier mit dem Unabwendbaren, die Details mit einem nicht zu fassenden Ganzen, dessen 70ies-Flair heutzutage weit entfernt scheint. Dass die eigenwillige Erzählstruktur den Roman trotzdem oder gerade deswegen zu einem Kultbuch hat werden lassen, spricht für Xi Xis erzählerischen Spürsinn, ihren sprachverspielten Umgang mit Realien – wie ein Beispiel, um Zeitlosigkeit herzustellen.

Jonis Hartmann


Xi Xi: Meine Stadt, Suhrkamp Berlin 2023