12. Mai 2004

Runtergefahren

 

Es scheint das Schicksal heutiger Probleme zu sein, dass sie nur mehr als Paradoxe formuliert werden können. Es ist wahrscheinlich, dass die Systemtheorie dazu beigetragen hat, dass man darüber nicht den Kopf verliert. Und Autoren wie Giorgio Agamben ist es zu verdanken, dass paradox anmutende Äußerungen immer noch vor den Kopf zu stoßen vermögen. Seine Rede davon, dass die Menschheit im Zustand eines weltweiten Bürgerkriegs lebe, ist unter dem unmittelbaren Eindruck der Erweiterung der Europäischen Union für viele vermutlich ziemlich skandalös. Nicht weniger als seine parallel dazu geschaltete These, dass der Ausnahmezustand „heute erst seine weltweit größte Ausbreitung erreicht“ habe.

 

Keine Frage, Guantanamo ist ein Ort, an dem Recht suspendiert worden ist. Die Gefangenen haben nicht den Status von Rechtssubjekten, sie haben nur noch ihr „nacktes Leben“. Aber welchen Status hat Guantanamo für Agamben, ist es Fliege, ist es Elefant? Ist es Symptom einer generellen Lage oder bloßer, therapierbarer Einzelfall? Nach Niklas Luhmann werden Paradoxe

dadurch entfaltet, dass ihre intrikate Ausgangslage verdeckt wird. Man tritt mit dem Anspruch auf, das bessere Argument auf seiner Seite zu haben und muss sich doch immer mit dem Vorwurf konfrontieren lassen, dass die Ausgangslage auch anders hätte gewählt werden können. So entsteht Kontingenzbewusstsein.

 

Ganz ähnlich geht Agamben in dem ersten und umfangreichsten Kapitel vor: „Der Ausnahmezustand als Paradigma des Regierens“. Die Infizierung der modernen westlichen Demokratien mit dem Ausnahmezustand, so Agamben, ist hausgemacht, er ist der Parasit, der den Wirt am Leben erhält. Seit der französischen Revolution lautet die unlösbare Frage, in welchem Verhältnis die Suspendierung des Rechts zu einer Rechtsordnung steht, die die Aufhebung der Ordnung innerhalb des Systems zur Sprache bringt. So etwa hat sich Hitler im Ausnahmezustand 12 Jahre lang eingenistet, den die Weimarer Verfassung mit dem Paragrafen 48 zur Verfügung gestellt hatte. Hitler ist aber für Agamben keine Ausnahme. Die „vorübergehende Abschaffung der Gewaltenteilung“ beziehungsweise die „totale oder partielle Suspendierung der Rechtsordnung“ als wesentliche Züge des Ausnahmezustands gab es auch schon während des Ersten Weltkriegs in der Mehrzahl der Krieg führenden Länder.

 

Das ist vielleicht gar nicht so erstaunlich. Agamben geht aber viel weiter. Seine zentrale These, die er in diesem Teilabschnittsbuch des Homo-Sacer-Projekts leider nicht weiter verfolgt und erhärtet, lautet, dass es eine Tendenz gebe, wonach „in allen westlichen Demokratien (...) die Erklärung des Ausnahmezustands zunehmend ersetzt [wird] durch eine beispiellose Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normaler Technik des Regierens.“ Ich muss gestehen, dass die wenigen Beispiele, die Agamben dann doch anbringt, mich davon nicht überzeugt haben. Nicht zuletzt deshalb, weil die Ausdehnung des Terminus Ausnahmezustand Unterscheidungen unmöglich macht, die nach wie vor getroffen werden können und müssen. Vielleicht rächt sich hier die philosophische Konzeption des Begriffs selbst. Agamben, ohne dass er das offen darlegt, scheint sich dabei auf Jacques Derridas „Konzept“ der différance zu beziehen, die so etwas wie eine nicht dingfest zu machende „Urdifferenz“ darstellt, die das Spiel der Differenzen überhaupt erst einräumt. Agamben konstatiert im zweiten Abschnitt (Gesetzeskraft, wobei das Syntagma „Gesetzes“ – wiewohl nicht kreuzweise – durchgestrichen ist) eine „strukturelle Analogie zwischen Sprache und Recht“. Agamben bezieht sich hier auf die strukturalistische Unterscheidung von langue und parole, deren Pointe darin besteht, dass das sprachliche Zeichen grundsätzlich arbiträr ist. Die Analogie lässt sich dann folgendermaßen entfalten: „Wie zwischen Sprache und Welt, so gibt es auch zwischen Norm und Anwendung keinen inneren Zusammenhang, der erlaubte, das eine aus dem anderen unmittelbar abzuleiten.“ (Von einem Satz wie diesem kann man ablesen, wie die Jetztzeit ein ganzes Zeitalter trennt von Autoren wie etwa Beccaria, die das Gesetz seine Anwendung gleichsam selbst repräsentieren ließen.)

 

Im Signifikanten gibt es also immer etwas, das nicht gesättigt ist; das ist sein prinzipieller Überschuss. Und dieser Überschuss bedeutet in einem zweiten Sinn die prinzipielle Erweiterbarkeit der Signifikation. Analog wird im Ausnahmezustand die rechtliche Norm daran erinnert, dass ihr Bezug auf die Normalsituation (das Leben) immer nur ein indirekter sein kann. In Passagen wie diesen scheint die eigentliche Sprengkraft, die hinter dem Terminus Ausnahmezustand steckt, sich seltsam aufzulösen. Agamben verstrickt sich mit dem Leser in subtile philosophische Begründungsfragen, und man wundert sich, wie der Bogen zur Politik, oder besser: zum Politischen, wieder geschlagen werden soll. Agamben geht es nicht um eine Ethisierung des Politischen, auch nicht um ein Zurück vor dem Ausnahmezustand, sondern um die Einführung der poetischen Funktion, mittels derer die Selbstbezüglichkeit der Mittel augenfällig gemacht werden kann, um Raum für anderes „menschliches Handeln“ zu ermöglichen. Mit einer so vagen Direktive muss der Leser sich am Ende zufrieden geben.

 

Das Buch ist sehr dicht geschrieben, stellt viel historisches Material zur Verfügung und geht einmal mehr den vertrackten Einflüssen, die Walter Benjamin und Carl Schmitt aufeinander hatten, nach. Brennende Tagesfragen beantwortet es nicht. Aber mit Sicherheit geben sie Agambens Thesen neue Nahrung.

 

Dieter Wenk

 

Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo Sacer II.I), aus dem Italienischen von Ulrich Möller-Schöll, Frankfurt 2004 (Suhrkamp)