2. April 2024

Schlafen wölln wir gahn


Im Poetenladen Verlag Leipzig erscheint ein äußerst komplexer (dicker) Gedichtband von Bertram Reinecke, der sich nach einem Ausflug in die Prosa Geschlossene Vorgänge, sehr gelungen bei Engeler, mit Lyrik zurückmeldet – vorweggenommen: ebenfalls sehr gelungen. Die Reihe Neue Lyrik, von Jayne-Ann Igel und Jan Kuhlbrodt betreut, veröffentlicht unter dem Titel Daphne, ich bin wütend eine Sammlung Reineckes, die es in sich hat. Irgendwie, so hat man ein Gefühl, hat dieser Dichter an Dringlichkeit, Gegenwärtigkeit und Kombinierwutmut zugelegt, was diesem Band wie auch einzelnen zyklusartigen Gedichten darin zugutekommt. Präsent sind die bekannten strengen Montagen Reineckes, die Positionen des Sleutel weiterschreiben, sich aber auch mit akuten Interviewschnipseln (Griechenland, Desaster usf.) versehen über besondere Wiederholungen Insistierungssituationen schaffen, die wie Soundscapes neue Echoräume (auf die Gegenwart) erschließen. Es fehlt nichts Barockes (und natürlich andere Zeitmateriallager bis hin zu Christian Schloyer usf.), doch ist Reineckes Montageauswahl auf ein Jetzt hin kuratiert: nur das passende Tuende aus jeweiliger Zeit.


Man könnte diesen Stoff brainy ambient nennen, oder was einem sonst tonal in den Sinn flirrt, doch tatsächlich schafft der Autor es mit einem riesigen Nachwort (dieser inhaltliche Nachgang als Selbstkommentierung ist schon aus Geschlossene Vorgänge bekannt), die Lese- und Auswahlakte vor einer Montage (gewaltige Archiv-Sensereien für z.B. 5-hebige, bildlose Sprache-an-sich Patterns für den weiteren Verbau) plausibel als Atelieraufenthalt darzustellen, aus dem dann konstruktiv die Sprachskulptur herauswächst, „schwer erkennbare Tierfiguren kneten“. Vielleicht ist dieser gewichtige Essay sogar der wichtigste Text Reineckes in diesem Band, schlägt er doch einen Verteidigungston (aus Erfahrung) gegen mutwillige Nichtgoutiererei oder – schlimmer – Ausgrenzung einer ziemlich alleinstehenden Position dieser Lyrikerstellung ein – gewiss sei niemandem, auch nach fast juristisch anmutender Beweisführung eines Stunde-um-Stunde-Arbeitsprozesses (wie bei primärentsprungener Lyrik auch), nicht doch auch gestattet, für eine Darbietung dieser Art (oder jedweder anderen Art) nichts übrig zu haben, „ein inniger Moment sehr nahe am Ekel“. Dennoch, der Essay zeigt Haltung, die über Reineckes eigene Positionierung hinausgeht, für Lyrik, Kunstproduktion im Angesicht des Publikums, um ihr gegenseitiges Aushalten zu ertüchtigen. Beredt, interessant, an dieser Stelle auch körperlich, weil persönlich ins Risiko geworfen.


Neben den Montagen allerdings, die Kuhlbrodt in einer Nachnachbemerkung übrigens mit Modulefügung vergleicht, hier fällt einem eigentlich fast zwangsläufig Farhad Showghis Anlegestellen für Helligkeiten-Konzept ein, vielleicht auch das Sampling oder De-mixing, sind jedoch mehrere nicht-montierte Primärgedichte Reineckes über den Band verteilt, die intelligent gegeneinander geschnitten, sich zu farbreichen Texturen zusammenhäkeln. Eine wie Übungen anmutende Landschaft der diversen Ansätze, aus Material, Stufen von Naivität bis Nerdigwerden, spielt ein Silbenärgerdichnicht angewendet auf „erschöpfende“ Übersetzung von z.B. Dylan Thomas’ Do not go gentle... oder die Haikuisation von Celans Sprachgitter. Reinecke kontrolliert virtuos.


Einer der Höhepunkte dieses fordernden Bandes sind die Gedichte in der Abteilung Schnee auf halbem Weg. Darunter das Poem Halbe Strecke, das sich selbst an die Hand nimmt auf dem Weg ins Weniger, darin die Emotionen nicht nur beobachtet, sie in die Zeilen nebelt:

„Etwas Wiese, etwas Wasser und Wald
das findet jeder schön, warum nicht
zusammen spazieren? Eigentlich ist die Welt
friedlich, Menschen gehen herum, schwatzen
die Landschaft zu, Väter lüften ihre Kinder aus
wie das Plätschern des Flüsschens von ferne
die Motoren der Gartenschredder, die Lauben
werden winterfest gemacht ...“

Daphne, ich bin wütend ist ganz sicher ein Statement mit Wucht und Emphase, das jede Aufmerksamkeit mehr als verdient. Eine singuläre Dichtposition, die distinkt, eloquent, reflektiert wie neugierig das Material Welt aufnimmt, zerlegt, parafügt. Reinecke hat mit Prosa wie Lyrik bestellt und es sei, neben der verlegerischen Tätigkeit (Reinecke & Voss), davor ein Hut gezogen.

Jonis Hartmann

 

Bertram Reinecke: Daphne, ich bin wütend, Poetenladen 2024