19. März 2024

Verkümmerter Buddha

 

Ein Autor in der Anstalt, oder eingewiesen & darin schreiben: Roger Van de Velde veröffentlichte zu Lebzeiten wenig, galt als unbequemer Kritiker, Journalistchronist der belgischen Gesellschaft & Politik, verbrachte viel Zeit hinter Gittern & Kitteln, starb 1970 in Freiheit (kurz), war über den Rand tablettensüchtig. Sein Bericht, auch Erzählungen genannt, Knisternde Schädel, ist ein Stück Kassiberliteratur. Herausgeschmuggelte Notizen über, eher Porträts von, Mitinsassen einer Geschlossenen, von ihm selbst „Unglamouröse Anrufung“ genannt. Er selbst ist präsent, wirkt wie ein Investigativjournalist, der die Abläufe stört, notiert & theoretisch die Macht hätte, wieder hinauszugehen – doch es täuscht: Er ist wie Sie, die Porträtierten.

 

„Mouchard, Spitzel, war das widerlichste Schimpfwort, das in der Anstalt für die größten Kretins in Gebrauch war. Man konnte, ohne allzu viel Verachtung zu erregen, unbehelligt mit Mord, Vergewaltigung und Brandstiftung auf dem Gewissen herumlaufen, ein Spitzel hingegen war in den Augen der integren Jungs, die ihre Zeit überwiegend damit zubrachten, einander mauschelnd und Komplotte schmiedend hereinzulegen, unstreitig die am tiefsten gesunkene Kreatur, die keinerlei Nachsicht erwarten durfte.“

 

Van de Veldes Sprache, die genrestrukturell eher den Charakter von Briefen hat, ungebügelt, schnell, mit Risiko, ist wach & zärtlich zu gleich, inhaltlich sicher ihrer Zeit verhaftet, die Chronik der Durchbruchverhalten. Annette Wunschel übersetzt wiederum sehr wach, steuert ein einfühlsam-kritisches Nachwort bei, das diesen Band nicht aus der Zeit gefallen macht. Das Unausgedachte ist sein Trumpf. Die Lebenslinien vieler Personen in dem Buch lesen sich wie das umgekehrte Boxer-Dogma they never come back – they always come back (in die Anstalt) als aufwühlendes Fazit einer Huhn-Ei-Frage zwischen Anstalt & Eingewiesenen. „In weniger als einer Woche verprasste er mehr als hunderttausend Franc. Er lungerte noch eine weitere Woche in den übelsten Hafenkneipen herum, bevor er an allen Gliedern zitternd und ohne einen Cent in der Tasche mit einem Delirium tremens in die psychiatrische Abteilung des städtischen Krankenhauses eingeliefert wurde.“ Aus Der Kunstmaler. Ziemliche Kost.

 

Jonis Hartmann

 

 

Roger Van de Velde: Knisternde Schädel, Suhrkamp 2024