6. August 2023

Wie Schock klingt


DMZ Kolonie, der Band mit den Siedlungen in militärisch hochbefestigter Grenzzone zwischen Nord- und Südkorea im Titel, hält, was er verspricht. Don Mee Chois Exkursion zu vielschichtigen Bruchsituationen ist, ausgezeichnet übersetzt von Uljana Wolf, nichts weniger als durch und durch verstörend. Die Art und Weise, eine Materialcollage, somit blickimmanente Stoffbefragung, die Choi, Dichterin und Bildende Künstlerin, vornimmt, ist jedoch offen genug, um ein poetisches Hoffen/ Handeln anblitzen zu lassen – wo immer es sich bietet. Wolfs Virtuosität im Umgang mit Sprache, zurückgenommen wenn es sein muss, geballt komplex, wenn es nottut, tut dem bei Spector Books in der allemal empfehlenswerten Reihe Volte exp. erschienen Band gut – ein anderer Sprachduktus scheint hierzulande kaum vorstellbar, um die „heimwehkranken Spatzen aus einer weit entfernten Stadt“ vorbringen zu können, in ihren Anliegen, Waisen-Denk-, Bild- und Nachbarnfunden.
„Kinder können, wie Ratten, auch im Dunkeln fröhlich sein.“
Großformatig, beinahe ein Sachbuch/ Sagbuch, mit Schnitten, Wechseln in Typografie zu Interviewauszügen, Gedichten, Handschrift etc., arbeitet sich DMZ Kolonie an Zeichnungen, Fotos, Originalschriftstücken, nachempfundenen Einträgen, Logs, Lyrik ab – wie ein Vortrag, buchgedeckelt.
„Erinnerung der Erinnerung. Erinnerungskind.“
Die Flug-/ Fliegemetapher, die Wie-Vogel-Existenz, die ständig übersetzt, sich hinübersetzt, zieht sich als Faden durch den Erinnerungsteppich. „Zwanghafte Übersetzerin“ als Selbstbezeichnung Don Mee Chois kommt ganz konkret im Text vor. Außerdem krass anmutende Schnipsel (Gedichte), Montagen aus dem Interview mit Herrn Ahn, einem arrestierten nordkoreanischen Sympathisanten, das Don Mee Choi geführt, abdruckt, verwendet. Ein Stammeln zwischen den (gefolterten) Seiten, als schmerzhafte Lektüre, aus dem sich weitere Konzepte des Bands ableiten: die Vokalextraktion, das Visuelle System, Symbole vs Konkreta. Mit jedem Umblättern, mit jedem neuen Kapitel geht etwas Neues auf, das mit den vorherigen Lichtwirkungen erst vollends wirkt.
„Das Universum ist ein Taumelraum.“
Waisen im Haft-Planeten Neun, atemlose Ich-Protokolle jener Waisen: „Meine Schwester konnte sich nicht bewegen, sie wurde wieder erschossen“ aus der US-Konfliktchronik, wiederum mit einer Verbindung hergezeigt, hier zu Waisenkindern von Kabakovs Schule-Installation, in Marfa, Texas, USA, „die Vereinigten Statute der Apparate“.
Dann hochpolitische Dialoge, Gespräche um unrestlos aufgeklärte Massaker – ein Treffen mit der feministischen Wissenschaftlerin, politischen Aktivistin Ahn-Kim Jeong-Ae, Forscherin und Taucherin in ideologischen Maschinerien, die der Strafkolonie Kafkas zugesellt werden: „Es ist nicht möglich, Schnee zu zählen.“
Ein weiterer Kapitelkomet kommt, die Spiegelwörter, der „Widerstand“ als spachlich-leslicher Modus, der zur Tätigkeit aufruft. Nämlich hier: Zum Spiegel gehen, sich selbst nicht ausblenden in jedweder Rolle, auch nicht als Lesendes, so die Worte überhaupt erst zu gewohnter Lesbarkeit (bei-) tragen.
„Wir, die Waisen, die keine Waisen waren, jubelten mit unserem neuen Alphabet [...]“ / „See you at DMZ!“
Schließlich wie nach der Vorstellung, wird mit den angehängten Nach-Anmerkungen über die Listen, Palindrome, Collagen, grafischen Arbeiten inhaltlich erweitert neu-berichtet, immer noch mehr Details und Zooms, Verkettungen, Zitate ans Licht gebracht, sozusagen außerhalb der Präsentation, die dadurch nichtsdestoweniger Teil derselben sind, angeführt in einem anderen Regierahmen.
Ein „fluides Gedächtnis“ schreibt Uljana Wolf, „das in mehrere Richtungen fließt“, in ihren eigenen Anmerkungen, die den Band beschließen, über die persönliche Arbeitsweise Don Mee Chois. Darin auch zu finden ist die „Möglichkeit, Sprache zu verändern und damit auf die Wirklichkeit einzuwirken.“
Mit diesem Band, Mittelstück einer Trilogie Chois, gelingt davon eine Menge. Die beiden anderen Teilstücke sind in Arbeit – gewiss auch sie irgendwann auf Deutsch zu lesen, eine Erfahrung von Sprengkraft.

Jonis Hartmann

 

Don Mee Choi: DMZ Kolonie, Spector Books Leipzig 2023