On Kawaras letztes Date Painting
On Kawara is dead. I´m still alive.
Am 10. Juli 2014, einem Donnerstag, stirbt in New York City der Konzeptkünstler On Kawara. Er wurde 81 Jahre alt: 29 774 Tage, 714.567 Stunden, 42.874.560 Minuten, 2.572.473.600 Sekunden. New York Times-Autorin Roberta Smith schreibt in einem Nachruf: „On Kawara, Artist Who Found Elegance in Every Day, Dies at 81“. Genau vier Jahre später, am 10. Juli 2018, einem Dienstag, beginne ich in Berlin mit der Niederschrift von „On Kawaras letztes Date Painting“. Bis zum 15. August 2018 nehme ich mir Zeit, den Text, den ich On Kawara widmen möchte, fertigzustellen.
10. Juli 2018. 6 Uhr 55. Ich bin am Leben. Ich bin ganz sicher. Denn ich schreibe. Ich habe soeben damit begonnen, die ersten Worte dieses Textes zu formulieren (Sie lesen sie gerade). In einem Prozess täglicher Selbst-Vergewisserung und Selbst-Behauptung werde ich in Analogie zu Kawaras Date Paintings („TODAY Series“) bis zum 15. August einen aus siebenunddreißig Tagestexten bestehenden Text schreiben: schriftstellerische Zeugnisse meiner Existenz, Bestätigung dafür, dass ich „noch da bin“: Da-Sein, Hier-Sein, Am-Leben-Sein. Die große Frage ist: Werde ich so lange leben, bis, am 15. August, der Schlusspunkt hinter den letzten Buchstaben des letzten Wortes dieses Textes gesetzt wurde? Das Leben und Schaffen On Kawaras gibt mir allerdings Mut, dass mir dies gelingen wird. Wir werden sehen. Es gibt immerhin einige Gewissheiten: Der Himmel ist bedeckt, ich höre eine Amsel. Später (es ist jetzt gegen 22 Uhr): Frankreich gewinnt gegen Belgien und steht nun im WM-Halbfinale. 11. Juli 2018. Als ich vom Tod Kawaras erfuhr, in jenem Sommer vor vier Jahren, war ich quicklebendig, putzmunter, vital, wie man so schön sagt, die Systeme arbeiteten, die Zellen teilten sich, Botenstoffe huschten hin und her, die Kommunikation zwischen den Synapsen funktionierte, Biochemie, Physiologie, Psychologie und was sonst noch dazu gehört, alles in bester Ordnung. Mein Herz schlug. Luft strömte durch meine Nasenlöcher. Der Brustkorb hob und senkte sich. Im Nacken verspürte ich die übliche Verspannung, im rechten Knie ein Ziehen, im Magen ein unspezifisches Völlegefühl, unter den Achseln eine leichte Feuchtigkeit. In meinem Kopf waren die Gedanken, in meinen Ohren und vor meinen Augen und in meiner Nase Klang und Bild und Geruch der Welt. Ich konnte mich also nicht täuschen, ich war ganz sicher, ich war am Leben, still alive. Im Schatten der Kastanie hatte ich die Zeitung aufgeschlagen und dort die Nachricht vom Tod meines Idols lesen müssen. Wie hatte ich On Kawara bewundert und verehrt für die Kraft und die Willensstärke und die Beharrlichkeit, mit der er ein Werk schuf, das zum Glück nicht mit ihm verstarb, sondern weiter leben würde bis in alle Ewigkeit. Überlebenslang. Kawara hatte sein Ziel erreicht: Er hatte mit seinem Werk die Zeit und den Tod besiegt. Wir alle sollten es ihm gleichtun, dachte ich. Ich hatte die Wespe von der Kapuzinertorte verscheucht, die vor mir stand auf dem Tischchen des Kaffeehauses. Ob es im 6.792 Kilometer entfernten New York wohl auch so heiß war wie in Wien, wo ich damals zuhause war? Ich zahlte, trat aus dem Kaffeehausgarten hinaus in einen schwülen Nachmittag. Ich bestieg den Tramwagen. Die Gasse, in der ich wohnte, lag verlassen da. Sommerstaub, Schatten, Leere. Die Menschen waren jetzt am Meer oder in den Bergen. Ich dachte wieder an On Kawara: in welcher Sekunde genau und an welchem Ort genau mag er seinen letzten Atemzug getan haben? was war seine letzte Handlung gewesen? die letzte Aktion seiner Hände? sein letzter Gedanke? was hatten seine Augen zuletzt gesehen? welchen Geruch hatte er zuletzt wahrgenommen? wer hatte seinen Tod festgestellt? wer hatte ihm die Augen geschlossen? wer hatte seinen leblosen Körper ergriffen? ihn gewaschen? ihn gekleidet? in den Sarg gelegt? seine Dinge geordnet? seine Aufzeichnungen und Notizen durchgesehen? seine Bücher und Bilder verwahrt? 12. Juli 2018. Der Tod hat heute Nacht nicht bei mir angeklopft. Vielleicht meldet er sich später noch? Wer kann das wissen? Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben, so sagt man doch. In einer jahrzehntelangen täglichen künstlerischen Selbst-Vergewisserung malt On Kawara seine Date Paintings. Zum ersten Mal konnte ich diese Bilder in Frankfurt am Main betrachten und bestaunen: in einer Ausstellung im Museum für Moderne Kunst. Das war vor zwanzig Jahren. Seither sehe ich die Welt mit anderen Augen. Oder sehe ich sie überhaupt erst? Kawara wurde 1929 in Aichi-ken geboren, ab 1965 lebte er in New York. 4. Januar 1966: On Kawara beginnt mit seiner TODAY-Serie und malt sein erstes Date Painting. Es hat den Titel FEBRUARY 7, 1966. Ich zitiere aus dem Katalog der damaligen Frankfurter Ausstellung: „Die ungerahmten Leinwände sind monochrom mit Acrylfarbe bemalt und tragen das von Hand gemalte „Schrift“-Bild mit dem Datum des jeweiligen Tages in Weiß. Jedes Bild entsteht an dem Tag, dessen Datum es trägt. Die unterschiedliche Schreibweise des Datums richtet sich nach der Landessprache des jeweiligen Aufenthaltsortes des Künstlers und somit nach dem Entstehungsort des Bildes, unter der Berücksichtigung der entsprechend gebräuchlichen Abkürzung des Monatsnamens“. 13. Juli 2018. Freitag. Der. Dreizehnte. Still alive. 14. Juli 2018. Kawara hat sich sein Leben lang für das Thema Zeit, Vergänglichkeit, Tod interessiert. Ich frage mich: Hat Kawara vor seinem Tod noch ein letztes Date Painting gemalt? Vielleicht sogar am Tag seines Todes? Fest steht: Dank seiner Kunst ist On Kawara unsterblich. Er hat sein gesamtes Leben in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. 15. Juli 2018. Am Morgen erwacht wie immer. Atmung: normal. Puls: ruhig. Jetzt ist es 18 Uhr 55, und Frankreich ist Fußballweltmeister. 16. Juli 2018. Heute treffen sich in Helsinki Putin und Trump. Vor 49 Jahren, am 16. Juli 1969, während der Apollo 11-Mondlande-Mission, malt On Kawara das Date Painting mit dem Titel „JULY 16, 1969“. 17. Juli 2018. Die Börsendaten heute, 8 Uhr 17: ThyssenKrupp: 21,15 / + 2.25, Deutsche Bank: 10,43 / + 0.36, Infineon: 22,25 / + 0.40, Siemens: 116, 60 / -0.15, Deutsche Post: 28,25 / - 0-18, Adidas: 186,75 / - 1.0 18. Juli 2018. Wenn Kawara noch am Leben wäre, würde er TODAY ein Bild mit dem Titel „JULY 18, 2018“ malen. Ein „J“, ein „U“, ein „L“, ein „Y“, ein Komma, eine „2“, eine „0“, eine „1“ und eine „8“. 19. Juli 2018. Ich schreibe: On Kawara wird geboren am 2. Januar 1933. Er lebt und erlebt die Jahre 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 und 2014, bis zum 10. Juli, dem Tag, an dem er stirbt. Die Tour de France heute am L'Alpe d'Huez. 20. Juli 2018. Zu Kawaras künstlerischem Konzept gehörten auch Postkarten, die er täglich an jenem Ort schrieb, an dem er sich gerade aufhielt. Die Postkarten zeigten ein Motiv der jeweiligen Stadt und wurden jeden Tag – als identische Kunstwerke – an zwei verschiedene Personen verschickt, mit dem Text I GOT UP AT…I´M STILL ALIVE und der genauen Uhrzeit des Zeitpunktes seines morgendlichen Erwachens. Ich habe heute zwei identische Ansichtskarten gekauft, die beide den Berliner Fernsehturm vor einem lackblauen Himmel zeigen. Dazu zwei Briefmarken. Auf die Rückseite der Karten schreibe ich: I GOT UP AT BERLIN am 20. Juli 2018, um 7 Uhr 03. I `M STILL ALIVE. Eine Karte geht an F. in Paris, die andere nach Hamburg, zu P. Beide werden sich wundern, nehme ich an. Beim Briefkasten murmele ich ein „Danke, On Kawara!“ still vor mich hin und überlasse die Karten sodann ihrem weiteren Schicksal. 21. Juli 2018. I GOT UP AT BERLIN, 7 Uhr 15 I´M STILL ALIVE. Dieser Tag wird wohl wieder 24 Stunden haben, oder 1.440 Minuten oder 86.400 Sekunden. Mein Herz wird in dieser Zeit 100.000 Mal schlagen, und ich werde 20.000 Atemzüge machen. 22. JULI 2018. Ein weiteres Kawara-Projekt: ONE MILLION YEARS – PAST, ONE MILLION YEARS – FUTURE. Die Zeit fixiert und eingefroren in einer Million Jahreszahlen. Ich sehe Kawara vor mir, wie er Jahreszahl um Jahreszahl tippt, Ziffer für Ziffer mit der Geduld und Hingabe eines Zenmeisters. Eine Million Jahreszahlen, im ersten Teil – „PAST“ – beginnend mit 998.031 B.C. und endend mit 1969 A.D, im zweiten Teil – „FUTURE“ – beginnend mit 1996 A.D. bis 1.001.995 A.D. Kawara hat sein Projekt in 20 dicken Buchbänden zusammengefasst, gedruckt auf Bibelpapier, jeder Band umfasst 2.068 Seiten. Kawara widmet den ersten Teil von ONE MILLION YEARS „all those who have lived and died“, den zweiten Teil „the last one“ unserer Spezies. ONE MILLION YEARS geht als Leseprojekt um die ganze Welt: Im Rahmen von fortdauernden Live Readings werden Kawaras Jahreszahlenreihen gelesen, die Lesungen aufgezeichnet. Wenn pro Jahr 27 CDs produziert werden, hat man in 100 Jahren sämtliche 2.700 CDs aufgenommen, die notwendig sind, um das gesamte Projekt zu erfassen. Wir schreiben dann das Jahr 2118. ONE MILLION YEARS in New York: Erste Lesung 1993 während Kawaras einjähriger Einzelausstellung ONE THOUSAND DAYS ONE MILLION YEARS im Dia Center for the Arts in New York, zuletzt im Februar 2015 im Guggenheim Museum. ONE MILLION YEARS auf der documenta 11: Die längste Lesung (und Aufzeichnung) bisher. 100 Tage – über die gesamte documenta 11 – lasen jeweils ein männlicher und ein weiblicher Perfomer abwechselnd aus ONE MILLION YEARS – PAST und ONE MILLION YEARS – FUTURE. ONE MILLION YEARS in London: Live Reading 2004 auf dem Trafalgar Square an 7 Tagen und 7 Nächten. Wie auf der documenta 11 befanden sich die beiden Performer in einem gläsernen Kubus. ONE MILLION YEARS in Frankfurt: 28.10. bis 26.11.2015, Lesung von Studierenden der Goethe-Universität in Kooperation mit dem MMK Museum für Moderne Kunst. 23. JULI 2018. TODAY is a good day! 24. JULI 2018. Ich befinde mich zur Zeit an diesem Ort: 52° 31' 18.905" N 13° 24' 47.574" E. Ich lebe! Je vi! I live! Io vivo! Ik leef! Jeg bor! Eu moro! Yo vivo! 25. JULI 2018. Wer kennt On Kawara? Hat jemand ihn gesehen? Gab es ihn wirklich? War er nicht ständig unterwegs? Auf Reisen? Gibt es Fotos von ihm? Interviews? War er bei seinen Ausstellungen persönlich anwesend? 26. JULI 2018. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Inv. Nr. 1982/3, 1989/4, 1989/10–13, 1990/2–8, 1990/31, 1990/112–122: „Die opake, matte Farbigkeit variiert zumeist zwischen vielstu?gem Blau, Grau und Schwarz bis hin zu einem kräftigen Zinnoberrot. Schriftbild und Bildgrund haben ein ausgewogenes Verhältnis. Die präzise und einfache Schrifttype füllt zentral die horizontale Mittelachse des Bildfeldes. Das weiße/leichtere Schriftbild steht vor dem dunkleren/schwereren Bildgrund. Die strikte Reduktion verstärkt die Konzentration der Bildwirkung. Die Größen der Bilder bewegen sich in 6 vom Künstler festgelegten Formaten zwischen 20,5 x 25,5 cm und 152,5 x 222,5 cm. Durch den 4 cm tiefen Keilrahmen, der rundherum mit Leinwand bespannt ist, und durch die monochrome Bemalung auch der Seiten?ächen wird das Bild zum Objekt.“ 27. JULI 2018. Heute gelesen, von Epikur: „Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht“. 28. JULI 2018. Ich sehe On Kawara vor mir: wie er am Morgen aufsteht, wie er sich zwingt, wie er sich quält, wie er an die Leinwand herantritt und diesen Tag, wie den Tag zuvor, in einem Bild fixiert, Kunst und Leben, Leben und Kunst werden eins, ein Leben lang. 29. JULI 2018. Heute 2,5 Stunden sinnlos in der Wohnung umher gegangen. Außentemperatur: 33 Grad Celsius. 30. JULI 2018. 10 Uhr 34: Soeben entdeckt im Blog „Kunst und Reisen“ von Andrea Welz: „Ich bin beunruhigt. On Kawara twittert nicht mehr. Der letzte Tweet wurde am 11. Juni 2013 wie immer um 19.00 Uhr MESZ/ 12.00 Uhr Ortszeit New York verschickt: I AM STILL ALIVE #art. So weit ich sehen kann, immer der gleiche Text: I AM STILL ALIVE #art. 2814 Tweets hat er gepostet: I AM STILL ALIVE #art. Ist es möglich, dass er jeden Tag nur einen einzigen Tweet gepostet hat? Wie lange gibt es Twitter, wann hat On Kawara mit twittern angefangen? Der erste Tweet wurde am 21. März 2006 durch den Twitter-Mitbegründer Jack Dorsey mit dem Satz „just setting up my twttr.“ verschickt. Seit dem ersten Tweet des Jack Dorsey am 21. März 2006 bis zum letzten Tweet des On Kawara am 11.06.2013 sind, wenn ich richtig gerechnet habe, 2639 Tage vergangen. On Kawara hat aber 2814 Tweets gepostet. Mehr Tweets als Tage. So muss er vermutlich Tweets wiederholt haben, oder er hat noch anderes gepostet außer: I AM STILL ALIVE #art. On Kawara folgt niemandem. On Kawara antwortet nicht. On Kawara kommentiert nicht. On Kawara retweetet nicht. Sein Avatar ist schwarz. On Kawara ist Künstler. Er benützt das Medium Twitter nicht zur Kommunikation, er benützt es für seine Kunst. Die Tweets kommen pünktlich wie die Glocken einer Kirche, wie der Ruf des Muezzin, im 24 Stunden Takt, immer um 19.00 Uhr MESZ/ 12.00 Uhr Ortszeit New York.“ Quelle: kunstundreisen.com/2013/07/storify-fur-on-kawara 31. JULI 2018. Ausgaben heute: Tanken 41 EUR, Lebensmittel 23 EUR, Bücher 36 EUR. Der Wetterbericht verspricht Gewitter für den Abend. 1. AUGUST 2018. Im Zeitraum von 9 Uhr 07 bis 19 Uhr 35 habe ich 4 Kilometer zu Fuß in der Stadt zurückgelegt 6 verschiedene Gebäude betreten mit 9 Menschen gesprochen 4 Amseln gesehen und 8 Hunde und 16 Sperlinge und 1 Schmetterling ich habe 5 x die Brille geputzt 1 x Lebensmittel eingekauft 19 E-Mails erhalten 6 SMS verschickt 2 x telefoniert 1 x geduscht und 6 x das WC aufgesucht 1 x den TV eingeschaltet und 8 x in den Kühlschrank geschaut. 2. AUGUST 2018. „Ich existiere nicht“, soll On Kawara von sich selbst gesagt haben. Soll ich mich diesem Gedanken anschließen? 3. AUGUST 2018. Selbst-Vergewisserung im Aufwachen: alles in Ordnung, ich bin noch da, atme, lebe, schreibe. 4. August 2018. Um 0 Uhr 09 zu Bett gegangen, um 3 Uhr 15 aufgewacht aus einem Traum, eine Viertelstunde herum gewälzt, wieder eingeschlafen, um 5 Uhr 03 wieder wach geworden, um 5 Uhr 16 wieder eingeschlafen, um 7 Uhr 15 aufgestanden. Still alive. 5. AUGUST 2018. Heute? Nichts. 6. AUGUST 2018. Lesen und schreiben. Schreiben und lesen. Lesen und schreiben. Spaziergang. Lesen und schreiben. Schreiben und lesen. Einkaufen. Abendessen. Lesen und Schreiben. Schreiben und lesen. Lesen und schreiben. 23 Uhr: Licht aus. Schlafen. Still alive. 7. AUGUST 2018. 23 x die Stirne gerunzelt 12 x den Mund verzogen 60 x die Augen geschlossen und wieder geöffnet 12 x gehustet 4 x geflucht 1 x in die Hände geklatscht 4 x den Rücken gedehnt 6 x den Kopf im Nacken gedreht 4 x gegähnt 3 x die Faust geballt. 8. AUGUST 2018. I GOT UP AT BERLIN, 6 Uhr 34, I´M STILL ALIVE. Identische Postkarten mit dem Motiv „Berliner Reichstag“ an M. in Düsseldorf und F. in Hamburg. 9. AUGUST 2018. Heute ist die Zeit vergangen, ohne dass ich es gemerkt habe. Luftspiegelungen. Wolkenbilder. Nebel. Schatten. Wind. Sterne. 10. AUGUST 2018. Ein guter Tag, um On Kawara Danke zu sagen: Arigat?, Thank you, Mr Kawara. 11. AUGUST 2018. Die Uhr ticktickticktickticktickticktickt. 12. AUGUST 2018. Notiz zum Kawara-Projekt I READ. I WENT. I MET.: Die I READ-Notizbücher enthalten – parallel zu den jeweiligen DATE PAINTINGS – tagesaktuelle Ausschnitte aus Zeitungen, von den Orten in aller Welt, an denen sich On Kawara gerade aufgehalten hat. Die I WENT-Notizbücher beinhalten Kartenausschnitte, in die Kawara seine täglichen Wege verzeichnet hat. In I MET hat Kawara alle Personen verzeichnet, die er kennt und denen er im Zeitraum von 24 Stunden jeweils begegnet ist. 13. AUGUST 2018. I READ: heute vor 57 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. I WENT: zur Bank zur Wohnung zum Supermarkt zur Wohnung zum Flussufer zum Kaffeehaus zur Wohnung. I MET: das Ehepaar K., Herrn M., den Hausmeister, Herrn Dr. F., Frau S. und Frau D. Heute wieder über 30 Grad Celsius, türkische Lira weiter unter Druck. 14. AUGUST 2018. Jetzt weiß ich: Ich werde schreiben. Ein Leben lang. 15. August 2018. On Kawara is dead. I´m still alive. Ich lebe. Ich kann mich nicht täuschen. Ich bin ganz sicher. Denn ich schreibe. Auch heute, am 15. August 2018, einem Mittwoch, während ich hier und jetzt den Schlusspunkt hinter den letzten Buchstaben des letzten Wortes diesen letzten Satzes setze.
Michael Kanofsky