5. September 2016

Raum-Neurosen

 

Ballard ist ganz sicher einer der interessantesten Autoren des letzten Jahrhunderts. Er schrieb viel und obwohl sich scheinbar vieles davon glich – dystopische, Sci-fi-artige Untergangsszenarien, die komplex fortführen, was man typisch britisch geprägt nennen könnte, von Orwell, Wyndham Lewis oder Golding prominent begonnen –, so gleichen sich in seinem umfangreichen Werk eigentlich nur wenige Stränge. Ballard schrieb autobiografische, historische Betrachtungen, ein großes Konvolut sozialkritisch-realistischer Storys, früh-ökologisch-vordenkerische Texte, sogar Krimis, teils extrem bizarre Experimentalromane im pornografisch-gewalttätigen Textraum, in Burroughs-Manier gecuttet, reine Weltraum-Odysseen, Katastrophen-Szenarien, als auch, und der Roman High-Rise gehört in diese Richtung, außerordentlich harte Sozialdystopien, die sich mit dem Einfluss von menschengeschaffenen Räumen bzw. Architekturen und Landschaften nebst Produkten/Waren auf das menschliche Verhalten auseinandersetzen.

High-Rise, zuerst 1975 erschienen, ist der Abschluss einer Trilogie, die mit Crash und Die Beton-Insel zwei Vorgängerbände aufweist, deren Bitternis, Intelligenz und Imaginationsvermögen eine faszinierende Stimmung erschafft, die der englische Neo-Logismus ballardian zu umschreiben weiß, für den es im deutschen Sprachraum (wohl auch aufgrund der zu Unrecht in den Heyne Verlag der 80er oder der Phantastischen Bibliothek Suhrkamps verbannten „Popularität“ Ballards) keinen Bedarf als auch kein Pendant gibt – allerdings ist es auch ein grundsätzlicher Mangel deutscher Sprache, kaum Eponyme zuzulassen, außer kafkaesk oder zappaesk, vielleicht noch chaplinesk, fällt einem wenig ein.

Viele Texte Ballards sind nach wie vor unübersetzt, seine gesammelten Erzählungen sind immerhin in zwei wohleditierten Heyne-Bänden vor einigen Jahren erschienen, der Rest in mehr oder minder obskuren Verlagen. Zum frisch erschienen Kinofilm High-Rise von Ben Wheatley 2016 ist nun im Zürcher Diaphanes Verlag, der sich vor allem durch seinen Hang zu philosophisch-kritisch-essayistischer Belletristik à la Perec auszeichnet, eine schöne Ausgabe erschienen, die Ballards deutsches Publikationsmuster erneut bedient. Ein Film, das Buch zum Film. So bei Spielbergs Tränen der Sonne 1987 und Cronenbergs Crash 1996 und jetzt dito.

Der Roman selbst ist eine heftige Kritik an den Errungenschaften der sogenannten Zivilisation. Utopistische Wohnmaschinen, praktische Produkte der Lebenserleichterung, Foucaultsche Dispositive im Gewand luststeigernder medialer Werbeästhetik. Und das herausgeforderte Gegenteil tritt ein. Völlige Isolierung, Pervertiertheit und kommunikative Verkümmerung bis hin zu wilden, barbarischen Zuständen und Krieg. War es in Crash noch die Fetischisierung von Autos und Unfällen, Verletzungen und Todessehnsucht als sexuelle Inkorporierung von Schnelligkeit und Konfrontation im Sinne menschengeschaffener Technik auf eine Gruppe von Protagonisten und in der Beton-Insel ein Stück Land, das von unüberquerbaren Autobahnen so eingeschlossen ist, dass sich eine Inselgeschichte Goldingscher Prägung entwickeln kann, so ist es in High-Rise die unhinnehmbare Wohnsituation in außermensch-maßstäblichen Siedlungen, wie sie vielfach als verdichtetes Wohnen über Jahrzehnte hoffnungsvoll und unkritisch in nahezu jedem Land der Welt als Universal-Lösung für das Wohnen der Zukunft praktiziert worden ist (und wird). Ballard dekonstruiert alles. Nichts bleibt. Bloß Rückfall und Zerstörung. Seltsam, dass Architekten scheinbar nie auf Ballard Bezug nehmen, noch nicht einmal kritisch. Ist er doch einer der frühen derjenigen, die explizit den künstlich geschaffenen Raum und seinen Einflüsse verhandeln.

In der Fabel selbst kommt der Architekt vor. Er wohnt als Schöpfer des ganzen mitsamt Park und Pferd oben im Penthouse und muss mitansehen, wie in den unteren Geschossen Anarchie, Mord und Todschlag herrschen, paradoxerweise aber sämtliche Bewohner, wenn sie zur Arbeit gehen, das Haus tatsächlich verlassen und ansonsten noch nicht einmal unglücklich über das Auslebenkönnen ihrer grenzenlosen Freiheit in dem Block sind. Laing, der Protagonist, schätzt wie seine Nachbarn ganz besonders den Komfort der Anonymität in dem als Stadt konzipierten Gebäude, das alles hat, was man gemeinhin zum Leben wohl so braucht. Noch nicht einmal eine gated community, sondern eine gated society, die räumlich und innerhalb der Stockwerksebenen ihre gatedness in Kastensystem und Luxuszunahme äußert und ins Chaos schlittert.

Ballards Schreibstil ist völlig schnörkellos. Seine Prosa ist nicht schön, sie ist aggressiv und direkt. Er verheimlicht nichts, benennt alles und sorgt trotz dessen für eine enorme Beunruhigung schon im ersten Satz –

 

„Später, als er auf seinem Balkon saß und den Hund aß, dachte Dr. Robert Laing über die Ereignisse nach, die sich während der vergangenen drei Monate in diesem riesigen Apartmentgebäude ereignet hatten...“

 

– dass scheinbar jedes Schreibcredo von heute vom Zeigen statt Sagen komplett ausradiert wird zugunsten einer So-ist-es-nun-mal-keine-Widerrede-Syntax und einem entsprechenden Stakkato-Lexien-Rhythmus.

 

„Die innere Zeit des Hochhauses verlief, wie eine künstliche psychologische Atmosphäre, nach ihrem eigenen Rhythmus, der durch eine Kombination von Alkohol und Schlaflosigkeit bewirkt wurde…

 

„Kurz nach neun versetzte an jenem Abend ein Stromausfall die neunte, zehnte und elfte Etage vorübergehend in Dunkelheit. Wenn er auf diese Episode zurückblickte, überraschte Laing das Ausmaß des Durcheinanders während der fünfzehn Minuten Finsternis. Etwa zweihundert Menschen hielten sich in der Halle des zehnten Stocks auf, und viele wurden verletzt, als alles in wilder Flucht zu den Fahrstühlen und Treppen stürmte. In der Dunkelheit kam es zu mehreren absurden, aber unangenehmen Auseinandersetzungen zwischen denen, die zu ihren Wohnungen in den unteren Stockwerken hinunterfahren wollten, und den Bewohnern aus den oberen Etagen, die darauf bestanden, nach oben in die kühleren Höhen des Gebäudes zu entweichen. Während des Stromausfalls wurden zwei der zwanzig Fahrstühle außer Betrieb gesetzt. Die Klimaanlage war abgeschaltet worden, und einen Frau, die zwischen dem zehnten und elften Stock mit dem Fahrstuhl steckenblieb, wurde hysterisch, möglicherweise weil sie Opfer einer kleineren sexuellen Belästigung geworden war – die gerade rechtzeitige Wiederherstellung der Beleuchtung enthüllte eine stattliche Ausbeute unerlaubter Kontakte, die unter den wohlwollenden Bedingungen totaler Dunkelheit wie eine gefräßige Pflanzenart gediehen.“

 

Wir gehen mit, vielleicht mit erhobener Augenbraue, wir wissen sofort, wie der Roman ausgeht, es gibt praktisch keine Entwicklung, der Konflikt ist von Anfang an schon am Schwelen, längst entbrannt und nichts davon ist geheim – und es macht uns nichts aus. Denn Ballards Erzählsystem ist präzise durchdacht, gnadenlos fesselnd und Hundertprozent verstörend. Ein paar zu viele Druckfehler haben sich in die Ausgabe eingeschlichen, aber das sei nur für Blooper-Fetischisten von Informationswert. Alle anderen haben es mit einer sehr gelungen Klassikerausgabe zu tun (inklusive ungewöhnlichem Umschlagmaterial – leicht gummiartiges Gefühl an den Fingerkuppen), die zum großen Verdienst von Diaphanes lieferbar ist und nicht nur Alptraumpotenzial hat, sondern einen brutalen und sicher nicht erfundenen Spiegel unserem auf ewig eingeschriebenem Menschen-Wolf-Sein vorhält, was ziemlich wehtut.

 

Jonis Hartmann

 

J G Ballard: High-Rise. 256 Seiten. Diaphanes. Zürich 2016. ISBN 978-3037349328

 

 

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