7. August 2016

Interesse oder Erkenntnis

 

Eine Gelegenheitslektüre

 

Ich kann nicht mehr genau sagen, was mich zur Lektüre dieses Habermas-Klassikers gedrängt hat. Was war eigentlich mein Erkenntnisinteresse? Je weiter ich mich in den Text vertiefte, desto mehr entfernte es sich. Dann musste ich unterbrechen: Nach einer Zwangspause aus Gründen intensiver Existenzsicherung (Arbeit! War das nicht ein zentraler Begriff?) wünschte ich mir einen Trailer: „Was bisher geschah“.

Das Studium alter Rezensionen in „Spiegel“ und „Zeit“ half der Erinnerung auf die Sprünge: das Ringen um den Unterschied zwischen Glauben und Wissen; der rationale Alleinvertretungsanspruch der Naturwissenschaften; Positivismusstreit vs. Neuer Realismus; die dritte Person, die Google ist; Verschwörungstheorien; aber auch: der Wandel der Öffentlichkeit in den 1960er Jahren und heute; große Koalition; Politik auf der Straße; die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Nachrichten und der Manipulation durch Medien; die Möglichkeiten von Theorie und Praxis.

Sonst noch was? Und wissen wir jetzt mehr?

 

„Erkenntnis und Interesse“ erschien 1968 und ist ein Schlüsselwerk jener theorieverliebten Epoche. Es überrascht trotzdem, dass dieser abstrakte Text auch außerhalb der Philosophie viele Leser gefunden haben soll. Er ist nicht gerade gefällig und locker geschrieben. Ein Quell schöner Stellen und zitierfähiger Passagen ist „Erkenntnis und Interesse“ (EuI) nicht. Wie hat es seine Wirkung entfaltet? Durch sein griffiges Leitmotiv: „Erkenntnistheorie muss Gesellschaftstheorie sein“? Womöglich schon. „Gesellschaft“ war ein magischer Ort wie in näherer Vergangenheit nur das Internet.

Zu einem guten Teil Bestand die Wirkung von „EuI“ in einer falsch verstandenen Wissenschaftskritik aus Sorge um die intellektuelle Unabhängigkeit der Geisteswissenschaften „angesichts einer befürchteten Verquickung von Wirtschaft und Wissenschaft“, so Anke Thyen im Nachwort dieser Ausgabe. Das hat durchaus negative Spuren im bundesdeutschen Bildungswesen hinterlassen. 

Einen anderen Teil der Wirkung macht das Versprechen aus, Theorie und Praxis zu versöhnen. „Erkenntnis und Interesse hat der Philosophie die Gesellschaftstheorie zurückgegeben“, schreibt Thyen. Aber auch hier kann es leicht zu Missverständnissen kommen. Dies ist nicht die Theorie der (revolutionären) Praxis, die sich viele schon von Adorno gewünscht hatten. Als Grundstein der Theorie des kommunikativen Handelns stellt sie eher die Weichen zu einem langen Marsch durch die Institutionen.  

Bezeichnend ist eine Begebenheit, die sich damals im philosophischen Seminar der Frankfurter Universität zugetragen hat, das Prof. Habermas leitete. Habermas und sein Doktorand Gerhard Stamer gerieten wegen dessen Papiers über einen Teil von „EuI“ aneinander. Stamer hatte unter anderem Habermas’ Marxinterpretation mit Formulierungen wie „Habermas sieht nicht“ oder „Habermas spart ... aus“ oder „bleibt befangen“ untermauert. Er entschuldigt sich dafür später schriftlich, da er Habermas in einer öffentlichen Auseinandersetzung nicht gewachsen sei, und beruft sich auf „lebendige, angstfreie Kommunikation“.[i]

Scharfe Formulierungen finden sich jedoch auch in „Erkenntnis und Interesse“ selbst, und bekanntermaßen wurde in den studentischen Basisgruppen auch kein flauer Umgangston gepflegt. Aber: In den Seminaren gab es (noch) keinen herrschaftsfreien Diskurses. Theoretischer Anspruch und praktische Durchführung klafften schon auf dieser Ebene auseinander.

 

Dr. Freud, bitte

Die Welt der 1960er Jahre war gerade mal ein Erwachsenenalter vom Zweiten Weltkrieg und der Shoa entfernt. Flucht und Vertreibung, Gefangenschaft, Verlust und Zerstörung des Lebensraums waren in den Biografien präsent. Die Verstrickungen in vielen Familien noch verleugnet. Kinder, die Väter oder Mütter verloren hatten, waren traumatisierte junge Erwachsene. Die Psychopathologien werden bis in die Enkelgeneration nachwirken. Das hat die Journalistin Sabine Bode eindrucksvoll dokumentiert, und Klaus Theweleit hat es darauf zugespitzt, eigentlich hätten alle in seiner Generation Psychoanalytiker werden müssen.

In das gesamtgesellschaftliche Klima haben sich die Gewalterfahrungen eingeschrieben. Entfremdung und Verdrängung sind überall greifbar. Zwischen den Generationen und sozialen Gruppen gibt es fundamentale Differenzen, wie eine Umfrage aus dem Jahr 1968 belegt: Die Aussage, „der Nationalsozialismus war im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde, befürworteten neun Prozent der Studenten mit einem mehr oder weniger deutlichen Ja, aber 43 Prozent ihrer nicht studierenden 17- bis 24-jährigen Altersgenossen. In der Gesamtbevölkerung teilen 1968 noch 50 Prozent diese Ansicht.“

Horkheimer und Adorno hatten die auf Naturbeherrschung fixierte Rationalität in der „Dialektik der Aufklärung“ als naturgeschichtliches Gewaltpotenzial ausgemacht. Auf die Errungenschaften der Aufklärung ist demzufolge gerade kein Verlass, wo es um Emanzipation von Herrschaft geht. Mit moderner Wissenschaft, die vielen einmal als Hoffnung für objektive Erkenntnis und Linderung von Not galt, lassen sich ebenso gut Rassengesetze begründen oder Konzentrationslager betreiben. Die irrational gewordene Rationalität muss einer Revision unterzogen werden.

Die „Dialektik der Aufklärung“ hält keine Lösung dieses Konflikts bereit. Auch für Habermas gibt es keine übergeordnete Instanz, die über die Vernunft der Vernunft entscheiden könnte. Doch er legt in „Erkenntnis und Interesse“ das Fundament für eine Gesellschaftstheorie, die zu einer immanenten Lösung in der Lage wäre: auf der Grundlage von Bildungsprozessen, durch Reflexion und Kommunikation.

1963 hatte Habermas die Untersuchung des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ rezensiert. Auch in „Erkenntnis und Interesse“ kommen die „Störungen“ und Neurosen zur Sprache, die die soziale Interaktion belasten. Die Psychoanalyse, deren Medium die Alltagssprache ist, bekommt für ihn als Wissenschaft Modellcharakter. Sie allein durchdringt ihre eigenen Verfahren reflexiv. Und sie bietet bei aller Kritik an Freud die Möglichkeit der Selbstaufklärung der Aufklärung.

Habermas weitet das psychoanalytische Modell gar auf die Gesellschaft und ihre Institutionen aus („Dieselben Konstellationen, die den Einzelnen in die Neurose treiben, bewegen die Gesellschaft zur Errichtung von Institutionen“), was er im Nachwort 30 Jahre später zu den nicht mehr haltbaren Komponenten seiner Theorie rechnet.

Beginnend mit Hegels Kritik an Kant, demontiert er den Mythos der interesselosen Erkenntnisorientierung der Naturwissenschaften. Marx, Comte, Mach, Peirce, Dilthey, Freud und schließlich Nietzsche sind die Stationen der Kritik. Dabei wird deutlich, dass die Naturwissenschaften nicht die alleinigen legitimen Werkzeuge humaner Erkenntnisnteressen sind. In den Geisteswissenschaften spiegelt sich das lebensweltlich-hermeneutische Interesse, der Verstehensprozess in der „Gattungsgeschichte“ – auch dieser Begriff ist Habermas nach 30 Jahren ein Grund zur Selbstkritik, denn er gehört, „noch zum Begriffshaushalt der Subjektphilosophie“.

Was Habermas 1968 schließlich als „das neue Muster für eine kritische Gesellschaftstheorie“ vorgeschwebt hatte, war die Methode der Ideologiekritik. Auch sie hält er 1998 nicht länger für zeitgemäß, denn „zum einen fehlt eine genaue Explikation des Maßstabs, an dem sich ,falsches Bewusstsein‘ kritisieren lässt. ... Zum anderen haben die klassischen Formen der Ideologie in Gesellschaften unseres Typs ihre Bedeutung eingebüßt: Wie der Kapitalismus funktioniert und welche Verteilungsmuster er hervorbringt, liest man heute in fast jeder Tageszeitung.“

 

Reality Check

Wie stichhaltig ist dieses Argument weitere fast 20 Jahre später? Der Springer-Chef Mathias Döpfner schrieb 2014 in einem offenen Brief an den damaligen Google-Boss Eric Schmidt: „Keiner weiß so viel über seine Kunden wie Google. ... Es gibt in diesem Zusammenhang ein Zitat von Ihnen, das mich beunruhigt: ,Wenn es Dinge gibt, von denen Sie nicht wollen, dass irgendjemand darüber etwas erfährt, dann sollten Sie so etwas nicht tun.‘ Noch beunruhigender ist nur der Satz von Mark Zuckerberg: ,... Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.‘ ... Ich weiß, es ist sicher nicht so gemeint. Aber dahinter stehen eine Geisteshaltung und ein Menschenbild, das in totalitären Regimen, nicht aber in freiheitlichen Gesellschaften gepflegt wird. Einen solchen Satz könnte auch der Chef der Stasi oder eines anderen Geheimdienstes einer Diktatur sagen.“

 

Dass diese Worte der Chef jenes Konzerns schreibt, zu dem auch die „Bild“-Zeitung gehört, in den 60er-Jahren das Symbol für manipulative Meinungsmacht schlechthin, ist eine besondere Pointe. Aber während diese „Bild“-Zeitung 2014 neun Prozent Anteil am deutschen Print-Werbe-Markt hat (vom Kartellamt als marktbeherrschend eingestuft), bringt es Google auf 60 Prozent des Online-Marktes.

Das Problem ist nicht nur, dass Konzerne wie Google Daten in großem Stil sammeln, sondern dass diese Daten auch in irgendeiner oder in vielen Hinsichten interpretiert werden. Ohne Ansehen der Person – in einem mehr als fragwürdigen Sinn. Dabei wird oft stillschweigend eine Gemeinwohlorientierung des materiellen Wohlstands und der technischen Machbarkeit vorausgesetzt, nach der der AdBlocker am Ende schädlicher ist als die nachrichtendienstliche Überwachung.

 

Google, NSA, Facebook, Ttip, ESM – als transparent hat sich der Kapitalismus seit 1998 nicht erwiesen, und selbst da, wo die unter wachsende Macht von Konzernen wie Google geratenen Tageszeitungen über seine Mechanismen informiert und aufgeklärt haben, haben sich die Einflusssphären, sogar die von Nationalstaaten und erst recht von Einzelnen und Gruppen, radikal verringert.

Das Wort von der Alternativlosigkeit eines bestimmten politischen Handelns konterkariert den Begriff der Politik selber. Interessant ist daher folgender Satz von Döpfner (s. o.): „Ich weiß, es ist sicher nicht so gemeint.“ Er passt zu einer Beobachtung des Internet-Aktivisten Jaron Lanier: „Das Problematische an Google ist nicht der Charakter oder die Absicht der Leute in diesem Unternehmen. Es sind gute Leute. Das Problem ist, dass sie in einer extrem einflussreichen Position sind, in der sie die Gesellschaft destabilisieren werden, wenn nichts dagegen unternommen wird.“

Wo aber niemand zur Verantwortung gezogen werden kann, geht die Macht von anonymen Systemen aus. Weil das der rationalen Gewohnheit widerspricht, leistet es Verschwörungstheorien Vorschub. Sie sind die perfekten Luftbilder rationaler Orientierung. Einzig ihre Perfektion verrät sie oft: Wo alles stimmt, stimmt etwas nicht. Wenn der Kohärenzreflex auf die Spitze getrieben wird, zeigen sie damit eine gewisse Familienähnlichkeit zu Narrativen wie der Psychoanalyse und dem historischen Materialismus.

Auch wenn spekulativ erzwungene Kausalketten aber oft – besonders wo sie in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften fallen – absurde oder auch bloß amüsante Ideen hervorbringen, lohnt sich ein kritischer Blick der Öffentlichkeit, also auch der Presse, wenn es um soziale und ökonomische Zusammenhänge geht. Wer profitiert? Wem nützt es? Was könnte das Interesse sein? An Nietzsche schätzt Habermas im Schlusskapitel von „Erkenntnis und Interesse“ seine radikale Erkenntnisskepsis. So verstehe ich auch Peter Sloterdijks Hinweis: „Es mag sein, dass da nicht ein einzelner Zentralschachspieler sitzt. Aber einzelne Züge auf diesem Schachbrett werden gemacht. Und ich denke, es könnte vernünftig sein, in diesem Punkt ein bisschen paranoischer zu denken.“

 

Zurück im Zorn

In letzter Zeit proklamieren „avantgarde-konservative“ Identitätsdenker offensiv einen Backlash, der die Idee einer Zeitenwende als logisch und folgerichtig darstellen soll: Eine Abrechnung mit „68“ und seinen kulturellen und sozialen Errungenschaften wird als dialektische Notwendigkeit gedeutet. „Wir waren jetzt länger in einer historischen Phase der Differenz und der Nichtidentität, der Abkehr vom Eigenen“, so die Erklärung Marc Jongens, eines Vordenkers der AfD. „Diese Phase ist offenkundig an ein Ende gelangt, daraus geht nichts Produktives mehr hervor.“ Lust am politischen Bekenntnis und Sehnsucht nach Eindeutigkeit kommen hinzu, was Jongens Lehrer Sloterdijk schon in die Rolle des intellektuellen Rückhalts für die sozusagen „tymotische“ Forderung nach Grenzsicherung mit Waffengewalt brachte.

„Er ist wieder da, der Gestus der Revolte, rechtsdrehend diesmal“, beschrieb Thomas Atzert das Phänomen bereits 1994 in der Zeitschrift „Die Beute“, als es schon einmal um ähnliche Selbststilisierungen als Opfer vermeintlich linker Meinungsmächte und die Inszenierung von Tabubrüchen ging. „Tabubruch verbindet, er wird zur geeigneten Vokabel für einen sich dissident gebenden hemmungslosen Konformismus.“

Das neu-heroische Denken Marc Jongens fordert dazu auf, gegen einen vermeintlichen kulturellen Verfall aufzubegehren. Liberalität gilt als Mangel an Urteilskraft, Toleranz als Schwäche, man schätzt Nietzsche als Kritiker von Herdenmoral und (ausgerechnet) für seine Analyse des Ressentiments, von der sich nach Jongen eine „direkte Linie zum Gutmenschentum“ ziehen lässt (aber: wie viel Ressentiment in diesem Begriff steckt!).

Das alles ist weder neu und originell noch in seiner verkrampft zugleich systemkritischen und staatstragenden Attitüde sonderlich sympathisch und attraktiv. Wer die Werte einer offenen Gesellschaft dagegen verteidigen möchte, sollte der Strategie des „Tabubruchs“ nicht auf den Leim gehen. Die Unterstellungen, die in ihrem Kielwasser mit an Land kommen, verfestigen sich unbemerkt zu Tatsachen. Die Regeln des Tabusager-Spiels, so Thomas Atzert, sehen als „Möglichkeit der Opposition“ nur die „Verteidigung des schlechten Alten“ vor, des behaupteten Tabus also.

Auf diesem Terrain lohnt es sich kaum, Geländegewinne zu machen. Aber stimmt unsere historische und politische Wahrnehmung überhaupt irgendwo mit dem Narrativ der konservativen Revolutionäre überein? Und wo es so ist, müssen wir keineswegs dieselben Schlüsse daraus ziehen. Deshalb nehmen sie präventiv einen exklusiven Zugang zur Wahrheit für sich in Anspruch: mit Begriffen wie Empirie und Realismus.

Konservativ heißt für Marc Jongen, „sich immer nahe an der Empirie zu bewegen“. Damit deutet er eine spezielle Realitätsnähe an. In demselben Tenor beginnt auch eine 2014 in der Zeitschrift „Sezession“ erschienene Besprechung zum Thema „Neuer Realismus“: „Das Wort ,Realismus‘ hat für den Konservativen einen guten Klang. Mancher hält ,realistisch‘ sogar für ein Synonym des Begriffs ,konservativ‘.“

Diese Einstellung müsste in einer kollaborativen, pluralen Gesellschaft naiv erscheinen, wenn sie nicht einfach das wäre, was sie, indem sie es behauptet, durchzusetzen versucht: autoritäres Gebaren. Ihr Vehikel ist ein Anklang an Wissenschaftlichkeit, die seit dem 18. Jahrhundert die Aura der Objektivität und Neutralität interesseloser Erkenntnis umgab. Zu Unrecht, wie Habermas gezeigt hat.

In beiden Fragen, der nach der geschichtsphilosophischen Heilserwartung durch Umkehr und der nach objektiver Erkenntnis, führt die reaktionäre Dialektik in fruchtlose Routinen. Praktisch gesehen ist das Zauberwort dieses Denkens, die „Grenze“, ein Horizont, gegen den es sich von innen stemmt.

 

Nicht diese Töne, Freunde

Anke Thyen schreibt in ihrem Nachwort zu „EuI“: „Die Idee des Diskurses, auf die Erkenntnis und Interesse vorausweist, ist so alt wie die Philosophie, aber Habermas hat sie in der Idee erkenntnisleitender Interessen unter den philosophischen Voraussetzungen der Moderne aktualisiert.“

„So alt wie die Philosophie“ – wie Platons Akademie oder das Vorbild des Sokrates, das Michael Hampe kürzlich für eine Erneuerung der Philosophie aus dem Geist des Gesprächs beschworen hat. Mit der Kultur des Behauptens und Widerlegens, die sich durch eine Verwissenschaftlichung der Philosophie etabliert habe, schaffe sich die Philosophie nur selbst ab. Notwendig sei vielmehr offener Austausch; Lebensgeschichten; die konkreten Sprachen der Menschen.

„Immer wieder tendiert die Philosophie dazu, konkretes Sprechen und Denken zu etwas Intelligiblem zu verallgemeinern, zur Manifestation einer allgemeinen menschlichen Vernunft (Kant), zum Haus des Seins (Heidegger und Gadamer), einem universalen Diskurs (Habermas) oder einem großen semantischen Spiel mit intelligiblem Schiedsrichter (Brandom).“

Eine sokratische Orientierung am guten Leben aller wird dagegen durch aufrichtige, wahrhaftige Kommunikation gefördert und diese ist zugleich ein Indiz für jenes. Hampe zog dafür nun auch den Begriff der Freundschaft heran (wobei er vielleicht auch an Derridas „Politik der Freundschaft“ dachte). „Die Wahrheit einer Behauptung macht sie im politischen Kampf noch nicht zu der Sicht der Dinge, die sich letztlich durchsetzen muss. Welches Schicksal die Wahrheit nimmt, hängt davon ab, wie die Öffentlichkeit beschaffen ist: ob sie eine von befreundeten oder verfeindeten Menschen ist.“

In einem feindschaftlichen Gesellschaftsklima, in dem die Prinzipien der freundlichen Auslegung und der Kooperation blockiert waren, hatten schon Horkheimer und Adorno in den 1930er Jahren eine profunde Skepsis gegen Kommunikation überhaupt entwickelt. Freundschaft allerdings ist eine zwischenmenschliche Kategorie, die sich nicht ohne Weiteres aufs große Ganze transponieren lässt. Mit guten Gründen bevorzugt Habermas ein neutraleres Vokabular, wo er etwa den Begriff der Gesellschaft dem der Gemeinschaft vorzieht. (Auch „politische Schönheit“ erscheint in diesem Zusammenhang als brisante Mischung.)

Vielleicht lässt sich gerade durch Habermas’ terminologische Zurückhaltung ein Mehrwert für das Verhältnis von Theorie und Praxis gewinnen. An anderer Stelle hat er zur Rolle der Intellektuellen erklärt: „Der Intellektuelle soll ungefragt, also ohne Auftrag von irgendeiner Seite, von dem professionellen Wissen, über das er beispielsweise als Philosoph oder Schriftsteller, als Sozialwissenschaftler oder als Physiker verfügt, einen öffentlichen Gebrauch machen. Ohne unparteiisch zu sein, soll er sich im Bewusstsein seiner Fallibilität äußern.“ Er soll das auch ohne Zynismus tun. Versteht man Zynismus als einen radikalen, forcierten Umgang mit Wahrheit, deutet das auf eine Enthaltsamkeit in praktischer Absicht hin; die Tugend der Deeskalation, die man schwerlich antrifft, wo das Interesse gar nicht Erkenntnis oder Selbsterkenntnis ist, sondern Autorität, Manipulation und Vertiefung von Ressentiments.

Doch Kommunikation dient schließlich allen möglichen Zwecken und Interessen. „Es ist eine philosophische Illusion, dass menschliche Kommunikation, sofern sie rational ist, auf die Erzielung, Erhaltung und Erneuerung von Konsens angelegt ist“, so Michael Hampe. Demnach wären auch Dissens, Ignoranz, Zynismus, Provokation, offene Feindschaft Formen rationaler Kommunikation. Inhalte und Formen der Kommunikation stehen in einem stetigen Wettbewerb. Auch Schweigen, Nichtteilnahme, gehört dazu. Die Regeln sind – bei uns – weitgehend offen. Allerdings scheint es, als würde jede Forderung, sich an irgendwelchen Regeln zu orientieren, von der einzigen Maxime überstimmt, der die gesellschaftliche Anerkennung immer zuteil wird: Erfolg. Er ist in gleicher Weise Antrieb für ganz unterschiedliche Verhaltensweisen wie Kreativität, Aggressivität, Idealismus oder Kollaboration. Er treibt dazu an, die Grenzen zu erweitern. „Es gibt immer einen, der die Regeln bricht“ – lockte noch vor Kurzem irgendeine Autowerbung. Wenn dann am Ende über den Erfolg – man denke an den Umbau der Türkei –, das scheinbar unbestechliche, anonyme, wissenschaftlich fundierte System der Börsennotierung entscheidet, ist das auch eine Form gesellschaftlicher Praxis. Noch einmal der Habermas von „Erkenntnis und Interesse“: „Außerhalb des Zusammenhangs von Theorie und Praxis, den die Wissenschaften auflösen und durch den neuen Zusammenhang der Theorie mit Technik nicht zureichend ersetzen können, haben Informationen keine »Bedeutung«“.

 

 Ralf Schulte

 

 

Der Felix-Meiner-Verlag hat das Werk 2008, 40 Jahre nach Erscheinen, mit einem Kommentar des Autors „Nach dreißig Jahren“ sowie einem Nachwort der Philosophin Anke Thyen in die Reihe der Philosophischen Bibliothek (Band 589) aufgenommen. 422 Seiten, Leinen, kosten 24,90 €.

 

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[i] Der Brief wurde „auf Beschluss der Basisgruppe“ veröffentlicht. Für Stamer hat der Vorgang weitreichende Konsequenzen: Er bricht seine Dissertation ab und arbeitet jahrelang auf einer Hamburger Werft. 1984 promoviert er in einem zweiten Anlauf bei Oskar Negt. Nina Verheyen hat seinen Brief gefunden und Stamer dazu befragt; https://www.merkur-zeitschrift.de/2015/09/24/fundsache-universitaere-streitkultur-1969-habermas.