Registerspaß
Das historische Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe, das 170 monografisch angelegte Artikel umfasst, ist nun auch als Studienausgabe erhältlich. Die Zielsetzung des Projekts, das eine lange Vorgeschichte hat, die bis in die Zeit der DDR zurückreicht, umschreiben die Herausgeber wie folgt: „Es geht um eine Bilanz der Geschichte ästhetischen Denkens im Spiegel seiner Begrifflichkeit und vor dem Hintergrund der aktuellen Entgrenzung des Ästhetikbegriffs.“ Der geografische Rahmen ist entschieden europäisch, der zeitliche Fokus der Analysen liegt natürlich in der Zeit von der Geburt der „Ästhetik“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis heute.
Das schließt nicht aus, dass im gegebenen Fall, zum Beispiel beim Lemma „Bild“, eine begriffsgeschichtliche Entwicklung von der Antike über das Mittelalter bis in die Zeit der Postmoderne geliefert wird. Insgesamt fransen die Grundbegriffe in folgende Gruppen aus: „Wertungsbegriffe, produktions- und rezeptionsästhetische Begriffe, auf Kunstarten bezogene Begriffe, kunst- und medienspezifische Begriffe, Begriffe im Grenzbereich von Rhetorik und Ästhetik“. Man findet also Lemmata wie „Hässlich“ oder „Wunderbar“, „Authentisch“ oder „Wirkung/Rezeption“, „Melodisch“ oder „Phantastisch“, „Anschauung“ und „Urbanismus“ sowie „Stil“ und „Metapher“. Das Lemma „Ästhetik“ wird auf etwa 100 Seiten abgehandelt, die durchschnittliche Länge der Artikel beträgt etwa 30-40 Seiten.
Man sollte also etwas Geduld mitbringen, denn die Beiträge sind nicht nur eher ausführlich, es sind auch Meisterstücke von Experten aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Disziplinen. Englisch- und Französischkenntnisse sind manchmal unabdingbar, da die teils langen Originalzitate aus diesen beiden Sprachen nicht übersetzt werden. Aber das knapp 6000 Seiten starke Lexikon eignet sich auch sehr gut für eine verstreut punktuelle Lektüre, denn im Registerband findet der Leser/Nutzer ein Begriffsregister, das weit über die 170 Lemmata des Grundbestands hinausgeht. Man wird merken, wie erstaunlich gut auch ein analoges Medium wie dieses die Erfahrung von Vernetzung möglich macht. Gerade am Beispiel einer verstreuten Lektüre wird man jedoch auch zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Begriffe wie „authentisch“ nicht immer in Gebrauch waren (im 18. Jahrhundert zum Beispiel), und es vorschnell wäre, entsprechende psychische Gegebenheiten ohne Weiteres von einem in ein anderes Jahrhundert zu übertragen. Denn nur über eine jeweilige zeitliche Kontextuierung lässt sich ermessen, wie stark ein Begriff zum Beispiel auch als „Kampfbegriff“ eingesetzt wird.
Der eine oder andere Leser wird sich vielleicht wundern, dass zum Beispiel ein Spezifikum wie „Capriccio“ den Eingang in dieses Wörterbuch von Grundbegriffen gefunden hat. Im Detail führt der Artikel vor, wie eine in der Tat lange als Subgenre verpönte oder äußerst geschätzte (musikalische) Gattung plötzlich zu einer „Botschafterin der Moderne“ hat werden können. „Aus ,klassischer’ Sicht bedeutet das Capriccio eine Abweichung, aber wenn die Bestimmungen dieser Ästhetik ihre Autorität einbüßen, dringen ,die Abweichungen aus ihren Reservaten an den Rändern des Kunstgeschehens in dessen Zentrum’ vor.“ (Das Zitat im Zitat stammt vom Kunstgeschichtler Werner Hofmann.) Verschärft könnte man zu dieser Universalisierung sagen, dass moderne Kunst und Neue Musik wie ein Capriccio strukturiert sind. Anders als in Europa wird übrigens in den USA nicht trennscharf unterschieden zwischen Avantgarde und Moderne, die man gewöhnlich mit dem Jahr 1800 beginnen lässt. Und während der Moderne-Begriff in Europa (anders als das Adjektiv modern) sich erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Epochenbegriff durchsetzt (in Frankreich mit Chateaubriand und dann vor allem mit Baudelaire ab etwa 1860, in Deutschland erst Ende der 1880er Jahre), so lässt sich feststellen, dass dieser Begriff zeitlich früher auftritt als der, der für die Epoche steht, die der Moderne vorausgeht, nämlich der der Neuzeit, der sich in Deutschland ab 1870 durchzusetzen beginnt. Cornelia Klinger schreibt dazu: „Die Verspätung des Begriffs Moderne auf den Sachverhalt, den sie bezeichnen soll, ist allerdings schon wesentlich geringer als die des Begriffs Neuzeit auf ihren Gegenstand: ein Anzeichen dafür, dass Beschleunigung nicht nur ein Merkmal moderner Zeiterfahrung ist, sondern auch für deren begriffliche Erfassung gilt.“
Es sind oftmals scheinbare Details, die den schon begrifflich angelegten Resonanzboden innerhalb der Artikel verstärken. Wenn z.B. Kurt Schwitters in dem Lemma „Abstrakt/Abstraktion“ vom abstrakten Bild sagt, dass es nicht „darstellt“, sondern – einen genialen Neologismus bildend – „da-stellt“, dann kann man das nicht präziser und kürzer sagen als der Dadaist aus Hannover. Jeder Begriff wird am Anfang des Artikels in den wichtigsten europäischen Sprachen als Wort vorgestellt, es folgt eine Gliederung des Textes, dann der Text samt Fußnoten, am Ende steht eine Liste weiterführender Literatur. Jedem Band steht ein Siglen- und Abkürzungsverzeichnis voran. Der Ergänzungs- und Registerband enthält neben dem ausführlichen Begriffsregister, das zudem die verschiedenen Facetten des Begriffs aufschließt, ein „Personen-Werk-Register“, in dem gezielt nach Publikationen oder Werken von Künstlern und Autoren gesucht werden kann. So mag es zwar sein, wie Theodor Däubler behauptet, dass wir „ganze Namensregister“ mit uns herumtragen, aber auf den Service dieses Wörterbuchs möchten wir dann doch nicht verzichten.
Dieser Schuber gehört, natürlich immer geöffnet, auf jeden Schreibtisch.
Dieter Wenk (10-10)
Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Studienausgabe, Stuttgart 2010 (Metzler), CXI, 5890 S., Kart. i. Sch., 7 Bände im Schuber, Klappenbroschur, 199,95 €