15. Februar 2016

Ahnenforschung

  

Etwas Verlockendes hat der Gedanke, dass der rein quantitative Zuwachs an Informationen über das Gehirn aus grundsätzlichen Erwägungen niemals auch einen qualitativen Wissensgewinn über das Bewusstsein hervorbringen könnte.

Allein die vor einiger Zeit von der MIND Group um den Neurowissenschaftler und  Philosophen Thomas Metzinger als PDF-Dokument ins Internet gestellten Forschungsergebnisse von über 90 Autoren wecken in ihrer beängstigenden Fülle den Verdacht: In diesem Leben nicht mehr zu einem zufriedenstellenden Überblick vordringen zu können.

Martin Heidegger schreibt irgendwo in seiner Korrespondenz mit Karl Jaspers, er selbst lese ja nicht viel und auch sehr langsam (wohinter sich vermutlich eine schlaue Entlastungsstrategie verbirgt); aber das müsste in jedem Fall den Schluss nahelegen, dass Heidegger unter den gegebenen Umständen über das Bewusstsein nicht viel in Erfahrung gebracht hätte.

Wenn klar wäre: Auf biologisch-physikalischem Weg wird sich das Problem nicht lösen lassen, der naturalistische Schatten der Philosophie wäre abgeschüttelt. Und mit ihm mühsame Lektüren – stilistisch und hermeneutisch sperrig. Eine solche prinzipielle Antwort wäre wohl auch – verglichen mit den Alternativen Arroganz oder Ignoranz – die elegantere Lösung.

1872 lieferte ausgerechnet ein Naturwissenschaftler die Vorlage dafür, die sich in den folgenden Jahrzehnten geradezu viral verbreitete; nach heutigen Maßstäben freilich in Superzeitlupe, und das kann man ja auch wieder als Kommentar zur konstatierten Informationsfülle verstehen. »Ignoramus« und »Ignorabimus«, lautete sein Fazit, wir wissen nicht, und wir werden nicht wissen. Mehrere Monate ließen die ersten Reaktionen auf sich warten. Und die letzte in dem Band »Der Ignorabimus-Streit« dokumentierte Bezugnahme datiert auf das Jahr 1908.

Der renommierte Biologe und Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818–96) hatte mit einer derart großen Resonanz auf die Thesen seines Vortrags »Über die Grenzen des Naturerkennens«, den er 1872 auf der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher hielt, nicht gerechnet. Aus seiner Sicht stellten sie lediglich die Zusammenfassung einiger längst bekannter Tatsachen dar. Doch noch um 1930 spielt Hermann Broch in seinem Romanwerk »Die Schlafwandler« auf die Debatte an, die mit den Möglichkeiten des Naturerkennens auch das Dasein in einer zunehmend rationalisierten Lebenswelt thematisiert. Und schließlich variiert Thomas Nagel in den 1970er Jahren den Ignorabimus-Gedanken in seinem Aufsatz »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« und löst damit die sogenannte Qualiadebatte in Philosophie und Neurowissenschaften aus. Auch Peter Bieri hat sich darauf bezogen und seinerseits Zweifel an der Substanz der Ignorabimus-These angemeldet (»Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?«).

 

So ist der Ignorabimus-Streit ein gutes Beispiel für die Umdeutung philosophischer Grundprobleme. Dabei ist die Aktualität fast aller Argumente für oder gegen die Grenzen des Wissens, wie sie Emil Du Bois-Reymond im ausgehenden 19. Jahrhundert aufzeigen wollte, nach wie vor verblüffend. Der Berliner Physiologe markiert in seinem Vortrag zwei fundamentale Erkenntnisgrenzen: Die erste gilt dem Wesen der Materie, die zweite der Beziehung unserer Gehirnvorgänge zu subjektiven Erlebnissen.

Während das Interesse für die erste – aufgrund eines veränderten Physik-Verständnisses – schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ziemlich nachgelassen hat, ist die zweite unverändert umstritten und »eines der Zentralprobleme der gegenwärtigen Philosophie des Geistes«, wie die Herausgeber des vorliegenden Bandes in ihrer ausführlichen Einleitung betonen, die dem Leser die nötige Orientierung an die Hand gibt.

Die Protagonisten der Debatte sind neben Du Bois-Reymond die Philosophen Eduard von Hartmann, Wilhelm Dilthey und Friedrich Albert Lange, der Botaniker Carl von Nägeli, der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, der promovierte Physiker, Schriftsteller und Politiker Walter Rathenau sowie der Physiologe Max Verworn. Im Hintergrund gibt es außerdem Bezüge zu anderen wie Ernst Haeckel, über dessen offenbar scharfe Auseinandersetzung mit Du Bois-Reymond man gerne mehr erfahren möchte. Und auch August Christoph Carl Vogts provozierend materialistischer Vergleich aus den 1850er Jahren, wonach das Bewusstsein sich zum Gehirn so verhalte wie die Galle zur Leber und das Urin zu den Nieren, wird von den Ignorabimus-Kontrahenten mit rezipiert.

Die beteiligten Naturforscher sind intellektuell geschult an den naturphilosophischen Systemen Schellings und Hegels und der Kant’schen Erkenntnistheorie. Ihre Diskussion um das Bewusstsein bewegt sich ähnlich wie heutzutage zwischen Polen der Profanisierung und Mystifizierung.

Du Bois-Reymond gibt der Debatte zwar die erkenntniskritische Grundnote, ist selber aber weit davon entfernt, das Problem des Bewusstseins intellektuell zu verklären. Er bleibt stets im Bereich naturwissenschaftlich greifbarer Tatsachen. Aber in die Debatte stimmen mit der Zeit auch andere Töne ein. Besonders der später in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« in der Figur des Arnheim porträtierte Walter Rathenau schwärmt geradezu für unhintergehbare subjektive Erfahrung, Persönlichkeit und individuellen Lebensentwurf.

 

Selbst wenn alle Fragen des Gehirns und seiner Physiologie geklärt sind, so argumentiert Emil du Bois-Reymond, wissen wir noch nicht, was die spezielle Qualität des subjektiven Erlebens ausmacht, die wir alle ja zweifellos wahrnehmen.

Ganze 23 Jahre danach räumt der Chemiker Wilhelm Ostwald in seiner Entgegnung ein, »Du Bois-Reymond [sei] allen Angriffen gegenüber sachlich der Sieger geblieben«. Dem Selbstverständnis einer erfolgsverwöhnten Naturforschergeneration widerspricht das allerdings. Und so sieht denn auch Ostwald den Grund dafür darin, dass stets nur die Fragen falsch gestellt worden seien. Zunächst sei es erforderlich, die (damals vorherrschende) mechanistische Weltanschauung zu revidieren. Sei sie erst einmal überwunden und von einer energetischen abgelöst, verschwinde das Scheinproblem von selbst. Realität könne nämlich einzig der Energie zugesprochen werden, nicht der Materie.

Dass es sich um ein Scheinproblem handeln könnte, wird auch von philosophischer Warte vermutet: Vom Standpunkt der Kant’schen Erkenntnistheorie verschwinde die Frage nach dem Naturerkennen, meint der Pädagoge, Ökonom und Philosoph F. A. Lange. Denn nach Kant gehören die Grenzen des Erkennens ohnehin wesentlich zur Möglichkeit des Erkennens. Die Skepsis Du Bois Reymonds ist demnach also nichts weiter als eine epistemologische Selbstverständlichkeit.

Diesen Gedanken vertritt auch Wilhelm Dilthey in seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften«. Dem Philosophen Eduard von Hartmann gehen die Zweifel Du Bois-Reymonds dagegen nicht weit genug: Er fordert eine erneuerte Einbettung der Naturwissenschaften in eine übergreifende, metaphysische Naturphilosophie.

Max Verworn pflichtet dem bei: Seit Hume und Locke beschäftige sich die Philosophie mit jenen Problemen, mit denen die Naturforschung gerade erst beginne. Sie könne dabei von dem seit Alters her gesammelten Wissen der Philosophie profitieren – ein nach wie vor zum neidvollen philosophischen Repertoire gehörender Einwand gegen den Naturalismus (www.textem.de/index.php?id=2694).

Worin dieser philosophische Erkenntnisanspruch bestehen mag, wird an der Art und Weise deutlich, wie der damals unter Pseudonym schreibende Walter Rathenau die Frage Du Bois-Reymonds zu einer größeren erweitert: Was lehren uns die Naturwissenschaften überhaupt über die substanziellen Fragen des Menschseins und der Sittlichkeit?

In diesem Ansatz Rathenaus vermischt sich bereits Modernismuskritik mit dem erkenntniskritischen Ausgangsproblem. Die Wissenschaften würden für ihren Beitrag am bürgerlichen Wohlergehen zwar zu Recht gerühmt, aber damit sei das eigentlich Wichtige noch gar nicht erreicht. »Es ist schwerer geworden, ein Bedürfnis zu finden als es zu befriedigen«, schreibt Rathenau. Das neue Credo des schöpferischen Individuums müsse heißen: Creabimus! Denn »wir glauben nicht an die ewigen Schranken, die die einzig wahrhaftige Naturerkenntnis umschließen. Ja, es gibt jenseits der Naturerkenntnis eine Erkentnis, die freier und reicher, nicht obgleich, sondern weil sie persönlicher ist.«

Als Gegengewicht zur fortschreitenden wissenschaftlichen Objektivierung prägen diese ersten lebensphilosophischen Aspekte die Debatte: Was Wirklichkeit ist, lasse sich nicht einfach abstrakt vom erkennenden Subjekt abspalten. Die Subjekte sind selber Teil ihrer Wirklichkeit, sie stecken mitten drin – und erkennen sie logischerweise besser als jede Naturwissenschaft.

Selbst ein allwissendes Wesen mit »astronomischer Kenntnis« darüber, was im Gehirn vor sich geht, so hatte Du Bois-Reymond argumentiert, ein Laplace’scher Geist im Besitz der Weltformel, könne in Bezug auf das Bewusstsein nicht klüger sein als wir. Denn dabei geht es nicht um die Komplexität des menschlichen Geistes allein; schon »mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginn des tierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt ...«.

Daher greift auch der Einwand des Botanikers Carl von Nägeli nicht, Du Bois-Reymond sei vielfach bloß missverstanden worden: Wenn die Forscher sich auf menschenmögliches Wissen beschränkten statt nach göttlichem Allwissen zu streben, könnten sie sagen: Wir werden wissen. Die Vorbehalte Du Bois-Reymonds wirken über jeden antizipierten naturwissenschaftlichen Fortschritt hinaus.

Von einem als natürlich verstandenen wissenschaftlichen Fortschritt, der sich in Form von Paradigmenwechseln vollzieht, sind die Denker des 19. Jahrhunderts jedoch selbstverständlich überzeugt. Schon bei Max Verworn tritt dabei der Gedanke einer Evolution und Selektion der Vorstellungen hervor, die heute unter dem Begriff der Meme fungieren würden. Einige herrschende Vorstellungen gehören ihm zufolge der mythischen Vorzeit an und seien dringend zu überwinden: Dazu gehören der Ursachenbegriff und die Kausalität, an deren Stelle nun das Konditional trete: »Alle Gesetzmäßigkeit hat konditionale Form«, das müsse die Naturforschung von der Mathematik erst noch lernen. Einen Grundkurs in Erkenntnistheorie liefert er dem Leser mit.

 

Was die Sammlung des » Ignorabimus-Streits« nicht mehr dokumentiert, ist der Versuch des bekannten Göttinger Mathematikers David Hilbert, Du Bois-Reymond zu widerlegen. Dazu verfasste er um die damalige Jahrhundertwende einen Katalog mit Rätseln seines Faches, von denen einige auch bald gelöst waren. »Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik gibt es kein Ignorabimus!«, soll er erklärt haben. Allerdings widerlegte ihn darin 1930 wiederum der Logiker Kurt Gödel, dessen Unvollständigkeitssatz besagt, dass es in Systemen wie der Arithmetik Aussagen geben muss, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen.

Mit Ludwig Wittgensteins »Tractatus« findet schließlich eine sprachphilosophische Transformation des Problems statt. Wittgenstein verteidigt die Naturwissenschaften, indem er ihnen die »Gesamtheit der wahren Sätze« zubilligt und Fragen, die sich innerhalb dessen nicht beantworten lassen, für sinnlos erklärt – darin durchaus ein Nachfahr Du Bois-Reymonds. Bekanntlich vervollständigt er diesen Gedanken zu dem Paradox, »dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.«

Der späte Wittgenstein findet dafür eine Lösung, als er sich auf den Gebrauch der Wörter in der natürlichen Sprache konzentriert. Der frühe Martin Heidegger dagegen ersetzt den Begriff eines abgespaltenen Bewusstseins durch das in der Lebenspraxis verankerte »Dasein«. Etwas Besseres hätte eine ausdauernde Lektüre neuester Ergebnisse der Hirnforschung wohl auch nicht hervorgebracht.

Demgegenüber führen manche Neurowissenschaftler noch heute, nach Kant, Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger, Camus, Habermas und Derrida, Windmühlenkämpfe gegen metaphysische Weltbilder, die, wie man sieht, schon das 19. Jahrhundert nicht mehr als Letztbegründungen akzeptiert hätte. Der oben erwähnte Thomas Metzinger beispielsweise raunt mit Blick auf ein unabwendbar zu erwartendes naturalistisches Weltverständnis: »Es naht also eine reduktionistische Anthropologie, und sie erreicht uns womöglich schneller, als wir darauf gefasst sind. Sie könnte für viele eine emotional ernüchternde Erfahrung darstellen.« Dazu gehöre etwa auch die erschütternde Möglichkeit, dass es so etwas wie ein Selbst in der Welt nicht gibt.

»So unsterblich pflegen nur unbesiegbare Probleme zu sein,« das dämmerte am Ende auch Emil Du Bois-Reymond.

 

Ralf Schulte

 

 

Kurt Bayertz, Myriam Gerhard und Walter Jaeschke (Hrsg.): Der Ignorabimus-Streit 

Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012, Philosophische Bibliothek Band 620

297 Seiten, gebunden, 38 €; eBook: 28,99 €

 

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