11. Januar 2016

Zurück zum Geist

 

Ist Philosophie eine Wissenschaft? Will sie es sein? Im 21. Jahrhundert gehen wir mit dieser Frage relativ entspannt um, sie verweist aber auf die lange Geschichte einer widersprüchlichen Konkurrenz zu den Naturwissenschaften, seit diese sich im 19. Jahrhundert zunehmend spezialisiert haben: Biologie und Evolutionslehre, Physik und Astronomie. Auch die Psychologie galt jetzt als »Naturwissenschaft des Geistes«.

Eine Reaktion darauf schlägt sich im Begriff »Geisteswissenschaften« nieder, der die Wissenschaftlichkeit auch für die damals neue Soziologie, die Ökonomie, die Geschichtswissenschaft und Philologie behauptet. Für die Philosophie hat das Konsequenzen, wie Herbert Schnädelbach erklärt: »In der intellektuellen Öffentlichkeit dominiert von jetzt an die Überzeugung: Wir brauchen die Philosophie nicht mehr, denn wir haben ja die Wissenschaften, die alle unsere Fragen beantworten werden. Damit sind nicht nur die Naturwissenschaften gemeint.« [1]

Die Philosophie reagiert auch zunächst mit einer Anpassung an die Standards anderer Disziplinen (Philologie, Soziologie, Psychologie), bis sich nach und nach eine komplementäre Vorstellung etabliert, die in radikaler Form Wittgensteins »Tractatus« verkörpert: auf den Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu verzichten. »Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften. (Das Wort »Philosophie« muss etwas bedeuten, was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.)«

Die vorläufige Konsequenz lautet: Philosophie ist gar keine Lehre, sondern eine Tätigkeit.

 

Mit einer solchen Antwort gäbe sich Markus Gabriel aus mehreren Gründen nicht zufrieden. Erstens findet auch er die Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften problematisch, weil man damit implizit akzeptiere, »dass es genau eine Wirklichkeit gibt, die eigentlich nur von den Naturwissenschaften untersucht wird.« Zweitens aber schleppen diese Naturwissenschaften heute einen solchen Berg von wenig hinterfragtem Halbwissen aus dem angestammten Bereich der Philosophie mit sich herum, dass es dringend der Aufklärung bedarf, sprich: einer strikten philosophischen Lehre.

 

Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik, so das Resümee von Michael Hampe[2]. Aber können kann man schon. Und wer der pauschalen Überzeugung ist, Einfachheit und Klarheit der Darstellung könnten einer komplexen Realität nicht gerecht werden, kann sich auch in dem zweiten der bei Ullstein erschienenen Bücher Gabriels vom Gegenteil überzeugen. Bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.

»Ich ist nicht Gehirn« beschäftigt sich in ethischer Absicht mit Fragen des Erkennens und des Bewusstseins. Wie schon in »Warum es die Welt nicht gibt«[3] geht Gabriel gegen naturalistische Tendenzen vor und verteidigt emphatisch die historischen Errungenschaften der Philosophie des Geistes. Dies wird gleichzeitig als Holschuld des heutigen neurozentrischen Wissens herausgestellt: Längst wussten Philosophen über viele Rätsel des Bewusstseins Bescheid, in die Neurowissenschaftler gerade erst wieder geraten oder ahnungslos darüber hinwegsehen.

Im Denken unserer gesamten Epoche, die sich schließlich den Naturwissenschaften anvertraut hat, schlummern aufgrund dessen ideologisch übertünchte Irrtümer. Einer davon heißt schon seit Beginn der Neuzeit: Die Wissenschaften haben die Religion verdrängt, indem sie das Weltwissen dem Aberglauben der Kirche entrissen und es auf ein empirisch überprüfbares Fundament gestellt haben. Das sei selber ein Mythos, meint Gabriel. Die falsche Alternative »Religion oder Naturwissenschaft« müssen wir demnach unbedingt »aufgeben«.

 

Markus Gabriel schließt sich damit aber weder einer postmodernen Dekonstruktion moderner »Großerzählungen« an, noch geht es ihm um eine Rekonstruktion der Rationalität à la Habermas (wonach die Religion im Mittelalter das philosophische Erbe der Antike bewahrt hat). Gabriel will die heute verbreitete theory of mind aus einer eindimensionalen neurowissenschaftlichen Weltsicht herauslösen und zu einer echten Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert ausbauen – auf humanistischer Grundlage. Denn die Neurowissenschaften versuchten nichts weniger als die geistige Freiheit des Menschen zu negieren, und ihr Erfolg gründe letztlich darin, dass dies einer psychologischen Entlastungsstrategie Vorschub leistet: Echte Freiheit macht den Menschen Angst.

 

Gabriel erweist sich als sympathischer, passionierter Besserwisser, der viele Auswüchse des von ihm hartnäckig so genannten Neurozentrismus souverän als populäre Irrtümer entlarvt. Ob dahinter wirklich eine naturalistische Verschwörung lauert, deren Ziel die Verleugnung der Freiheit der gesamten menschlichen Spezies ist, sei dahingestellt. Gabriels Freiheitsbegriff erscheint hier manchmal etwas unbedingt und idealistisch. Dieses Ziel jedenfalls »wäre erreicht«, schreibt der Bonner Philosoph, »wenn man etwa Heinrich von Kleists Amphitryon, Gioachino Rossinis Missa Solemnis, den Hip-Hop der neunziger Jahre oder den Bau des Empire State Buildings als etwas komplexere Varianten des im Tierreich verbreiteten Spieltriebs rekonstruiert hätte.«

 

Ist Hip-Hop ein gutes Beispiel? Aber drehen wir Gabriels Satz um und erforschen seine eigenen Ziele, er schreibt: »Dagegen verteidige ich hier die These, dass die Suche nach uns selbst, das Projekt der Selbsterkenntnis, völlig schiefgeht, wenn man denkt, man sei sein Gehirn.«

Es ist schwer, vom pompösen Sound solcher Statements abzusehen, die Gabriel scheinbar an die Pforten der Science-Tempel nageln möchte. Der didaktische Output geht immer wieder mal ins Proklamatorische über. Neben einem Neuen Realismus ruft er nun auch einen Neo-Existenzialismus aus. Und am Ende erklingt eine Ode auf den Humanismus nach Sartre’schem Vorbild, als wäre es erforderlich, der philosophischen Betätigung einen glänzenderen Rahmen zu verschaffen. Dabei drängt sich der Verdacht auf, dass Mängel im System einfach übertönt werden sollen. Ein »hoher Ton« scheint für Gabriel jedenfalls nicht gerade ein Reizthema zu sein.

 

Es ist zum Glück nicht der einzige Sound, den er beherrscht. Sein neues Buch unterhält mit Humor, Schärfe, Übersicht und manchmal auch Gelassenheit. Es erfüllt seine Absicht bestens, über Irrtümer und überzogene Schlüsse im Bereich der Neurowissenschaften aufzuklären, gegen die in letzter Zeit schon deutliche Einwände formuliert wurden, etwa von Maxwell Bennett und Peter Hacker[4]. Wie diese Autoren bereits akribisch gezeigt haben, weist auch Gabriel auf die Tücken von metaphorischen Sprechweisen hin, die vom Menschen handeln sollen, aber auf das Gehirn und seine Teile angewandt werden: »In der Zelle sitzt ja niemand, der einen Hebel umlegt, so dass nun irgendetwas durch eine Zellmembran diffundieren kann. Synapsen sind keine Schleusen, die jemand öffnet und schließt. Auf dieser Beschreibungsebene gehört es sich, Vorstellungen von Urheberschaft, Zweck und Handlung beiseitezulassen, da sie zu völlig unsinnigen (wenn auch amüsanten) Annahmen führen.«

 

Dass sich dies »gehört«, ist vielleicht der einzige Appell an die wissenschaftliche Redlichkeit, der hier möglich ist. Am Ende geht Gabriel aber eine Spur zu normativ vor, wenn er auf strikten Kontrollen an den Sprachgrenzen besteht: »Auch der Neurozentrismus verwendet Begriffe wie Bewusstsein, Denken, Ich, Geist, freier Wille und so weiter – sie sind und bleiben jedoch in ihrem Absolutheitsanspruch, der nicht empirisch zu begründen ist, philosophische Begriffe ...«.

Abgesehen davon, dass es schwer möglich sein wird, nicht nur Begriffe, sondern ihre gesamte Verwendung für einzelne Wissensgebiete zu reservieren[5], muss man fragen, wie sich dieser Gedanke mit Gabriels eigener »Sinnfeldontologie« verträgt, derzufolge jeder Gegenstand in unendlich vielen Sinnfeldern erscheinen kann. (Gleiches gilt für die Ablehnung des Neurokonstruktivismus einerseits und die Akzeptanz von »artspezifischen Erkenntnisbedingungen« andererseits.)

 

Insgesamt kann man sagen, dass Gabriel seinen eigenen Begriffen oft erstaunlich wenig misstraut. Es hängt mit seiner glossarhaften Art und Weise zusammen, diesen Ismus zu liken, jenen zu verwerfen, dass man ständig auf Ordnung und Widersprüche fixiert ist. Sind wir für oder gegen den Epiphänomenalismus? Für oder gegen Mikrofundamentalismus und Qualia-Eliminitavismus? Und vertragen die sich überhaupt, falls man sie zufällig beide präferiert? Die lehrbuchmäßige Begriffsmatrix gaukelt eine zweifelhafte Klarheit vor. Die einzig philosophische Antwort lautet vermutlich: Es kommt darauf an.

 

 

Ralf Schulte

 

 

Markus Gabriel, »Ich ist nicht Gehirn«, Ullstein Buchverlage Berlin 2015, 350 Seiten, 18 Euro

 

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[1] Herbert Schnädelbach stellt die Zusammenhänge anschaulich dar in: »Was Philosophen wissen«, München 2012

[2] Vergl. ebd. »Die Lehren der Philosophie«, Berlin 2014, www.textem.de/index.php

[3] www.textem.de/index.php

[4] www.textem.de/index.php

[5] So auch Hampe (ebd.): »Symptomatisch … ist der Feldzug Peter Hackers gegen das dissidente Sprechen einiger Neurowissenschaftler, die über das Gehirn oder seine Teile so sprechen, wie wir gewöhnlich über Personen reden. … Es ist aber sehr wohl denkbar, dass sich die neurowissenschaftliche Redeweise durchsetzt und Mitglieder künftiger Generationen so über ihr Gehirn sprechen, wie wir heute über Personen reden.«