19. Oktober 2005

Anlaufstelle für Ausreißer, Halbkriminelle und Halbkünstler

 

 

Die Palette war eine Kellerkneipe in der halbzerstörten Hamburger Neustadt am Gänsemarkt, die in den 50er und frühen 60er Jahren Anlaufstelle für Ausreißer, Halbkriminelle, „Halbkünstler“, Homosexuelle, Hafenarbeiter und OberschülerInnen war. In dieser Zeit schwappte der Lebensstil der Beatniks über den Atlantik, „Gammler“ mutierten zum Schrecken des Nachkriegs-Bürgertums, Existenzialisten übten sich im Ausharren. Für diese unklare Formation von Widerständlern war die Palette eine Art Sammelbecken. Hier wurden die Geschichten der Besucher zu Legenden, hier wurde dem prüden Umgang mit Sex im Wirtschaftswunder-Deutschland Freizügigkeit entgegen gesetzt, wie das sonst nur auf St. Pauli üblich war. Der Schriftsteller Hubert Fichte war es, der in seinem 1968 erschienenem 365-seitigem Roman „Die Palette“ dem Kellerlokal ein Denkmal setzte und manchem Underdog und Bohemién zur literarischen Figur werden ließ.

 

Der Sprachwissenschaftler, Hubert Fichte- und Arno Schmidt-Experte Jan-Frederik Bandel, der Journalist Lasse Ole Hempel und der Filmemacher, Musiker und Fernsehautor Theo Janßen (der auch den Film „Palette revisited“ drehte), befragten für dieses Buch ehemalige „Palettianer“, wie sie diese Zeit erlebt haben. Mit dabei waren u. a. Harun Farocki, Leonore Mau, Horst Vocke, Mac Rugenstein, Cäsar Schwiegers, Hans Herbert Schuldt, Ilse Lange-Henckels („die lange Ilse“), die mit ihren Erinnerungen diese Ära wieder auferstehen lassen.

 

Zusammen mit den 70 Schwarzweiß-Fotos entsteht tatsächlich etwas von dieser Atmosphäre, die das vom Zweiten Weltkrieg noch lädierte Hamburg kennzeichnete. Hamburg war rough damals. Nicht so edel wie heute, nicht so abgeklärt. Man spürte den Hafen viel stärker in der City. Alles hätte sich anders entwickeln können. Aber der Großteil der Bevölkerung sehnte sich wohl nach Sicherheit, Knechtschaft und Ruhe und nicht nach Abenteuer, Revolte und Wildwuchs. Somit ist die Palette schon als eine Art Vorbild zu sehen. Nicht unbedingt für die politischen Aufstände 1968, sondern für die Idee, eine Kneipe zum Lebensstil werden zu lassen (wie das u. a. in den 80ern in der Hamburger „Marktstube“ im Karoviertel seine ganz andere Fortsetzung fand).

 

Der Jazzer Michael Naura, der Ende der 50er regelmäßig im „Barett“ in den Colonnaden auftrat, erzählt, wie desolat und auch trist die Palette war und dass sie ihm „nicht lustig genug“ gewesen sei, dass sie zu seiner Stammkneipe hätte werden können. Hier stand die erste Musicbox, in der man Paul Anka und Elvis mit den allerersten Nummern hören konnte. Es liefen auch Cooljazz, Chris Barber, französische Chansons, Juliette Greco, Freddy und Willy Millowitsch („Schnaps, das war sein letztes Wort“). Die Gäste waren auch Mädchen mit hochtoupierten Haaren in violetten Stiefelchen, die mit diesen ihren Pudel traten und Jungs in eng anliegendem Leder und frisch gespritzten Motorrädern vor der Tür, Herren in schwarzem Anzug und weißem Hemd, Dropouts, Dschingis Khäne, bizarre Figuren. Eben alles beieinander statt – wie heute – alles feinsäuberlich voneinander getrennt. Wer wissen will, was man damals las, schrieb, hörte, wie man lebte neben dem Muff unter den Talaren und unter den Sofas, der lese dieses Buch. Eine spannende Angelegenheit, die einen Blick auf unsere Wurzeln freilegt.

 

Carsten Klook

 

Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen: Palette revisited – Eine Kneipe und ein Roman, Nautilus-Verlag 2005

 

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