Revolution und Heimarbeit
Wie Bürokitsch sieht es aus. Auf dem Schreibtisch des Ex-Partners liegt ein stählerner Würfel, aus dem ein streichholzgroßes, an silbrige Drähte gelötetes Glasröhrchen ragt. „Jumping Jack Flash – der Blitz, der aus der Kiste springt“ hatte die Produktionsabteilung die Miniaturausgabe der Lichtblitzgeräte ironisch genannt, die die „Muße-Gesellschaft“ Ende der 60er Jahre auf den Markt brachte. Das Stroboskop-Licht sollte die Revolution begleiten. 20 Jahre später dient es den Firmengründern nur noch als Briefbeschwerer.
Der 1945 geborene Autor Bernd Cailloux symbolisiert mit diesem Gegenstand zu Beginn seines Romans „Das Geschäftsjahr 1968/69“ den blamablen Überrest einer subversiven Gesellschafts- und Geschäftsidee. Nicht Erfolglosigkeit, sondern im Gegenteil der unerwartete Boom war im Falle des von ihm beschriebenen Unternehmens dessen Untergang. Die Ideale sind dahin, die Freundschaft zerbrochen. Der eine Gründer ist zum profitgeilen, zynischen Geschäftsmann geworden, der andere, der Erzähler, ein seinen Träumen immer noch verhafteter Achtundsechziger. ’68, „dieses jahrelange Jahr, das mindestens ein Jahrzehnt währte“, hat sich in Widersprüche verstrickt, die noch immer das Lebensgefühl der heute über 50-Jährigen spalten. „In dieser Zeit wäre – unter uns – das Unmögliche noch möglich gewesen“, gibt der namenlose Ich-Erzähler dem Leser zu verstehen. Doch nur Chaos blieb zurück. Zumindest im Hinblick auf die Ideale und Visionen, die der Erzähler hat.
Eine Erfindung zu machen. Etwas herzustellen, das es noch nie gab. Eine Innovation, die die Welt verändert, natürlich zum Besseren. Das ist der Traum, wie ihn heute noch mancher Ich-AGler hegt und den in den 90ern zahlreiche Startups noch zu leben versuchten, mit flachen Strukturen und einem Kickertisch im Büro. Erfolg, Selbstverwirklichung und Spiel sollten untrennbar zusammenfallen.
Für manche Ideen muss die Welt bereit sein. Und 1968 war sie es. Drei Jungs in einer Gartenlaube in Düsseldorf haben nicht nur eine umwälzende Idee, sondern auch noch das nötige Know-how. Einer kennt sich mit Elektronik aus, die beiden anderen mit hochtrabendem Gerede und pseudopolitischen Hirngespinsten. Ein perfektes Team. Der Techniker verlangt nach frischen Oberhemden, die beiden anderen besorgen sie ihm, sowie die nötigen Materialen und Kontakte nach draußen.
Die drei machen in Licht. Sie stellen Stroboskope für Diskotheken her und erzeugen Lichtgeflacker, wie es die Welt bisher noch nicht gesehen hat. Ärgerlicherweise liegt der Hauptabsatzmarkt nicht im blitzenden Zentrum der befreiten Gesellschaft, sondern im ewig gestrigen Rotlichtviertel Hamburgs. Nach der coolen Premiere im angesagtesten Psychedelic-Club der Stadt interessieren sich vor allem die etablierten kommerziellen Animationsinstitute für die Lichteffekte der „Muße-Gesellschaft“. Ein Grundwiderspruch zwischen Kunst und Kommerz, den die auf Subversion gebaute Firma nicht mehr los werden wird. Lichtinstallationen für Messepräsentationen, Mercedes und die deutsche Futtermittelindustrie lassen die alternative Idee schließlich gänzlich im kapitalistischen System verpuffen. Dabei sollte es gar nicht um Geld gehen, sondern um die Unterwanderung des Geld-Systems. Als die Firma gegründet wurde, gab es weder Verträge, noch feste Gehälter, alles gehörte allen. Aber der Markt lässt das nicht zu. Die Nachfrage steigt in rasender Geschwindigkeit und die erwirtschafteten Millionenbeträge schreien nach doppelter Buchführung.
Dass Geld automatisch den Charakter verdirbt, das wäre ein zu einfacher Schluss, den man aus Cailloux’ Roman ziehen könnte. Eigentlich ändert sich im Roman denn auch nur eine Figur. Die anderen bleiben ihren Idealen treu, ziehen sich allerdings in die Wattigkeit einer inneren, zeitweise mit Drogen stimulierten Immigration zurück. Wie in der Parabel „Animal Farm“ kommt auch der kleine Betrieb nicht lange ohne einen Anführer aus. Der Visionär Büdinger ernennt sich nach kurzer Zeit selbst zum Chef und alle anderen zu seinen Angestellten. Die anderen wie Bekurz, ohne den überhaupt nichts laufen würde, da er als Einziger über die nötigen technischen Kenntnisse verfügt, ordnen sich wortlos unter. Allein der Ich-Erzähler geht auf Konfrontationskurs und gründet in Hamburg eine Zweigstelle, wo er versucht, ein Millionengeschäft allein abzuwickeln.
„Wir sind Enthemmungsassistenten. Wir helfen Leuten, aus sich herauszukommen“, erklärt der Hippie-Businessman das Konzept der „Muße-Gesellschaft“. Doch Ekstasen in Diskotheken unterscheiden sich nun mal nicht von ekstatischem Autowaschen. Und das Geschäftsjahr 1968 unterscheidet sich vom Geschäftsjahr 2005 im Grunde auch nur in einem Punkt. Das Geschäftemachen hat sich nicht verändert, wohl aber die Beteiligten. Die ideologischen Zwänge, denen sich herumspringende Blumenkinder ausgesetzt sehen, wenn sie viel, viel Geld verdienen, machen jedes ihrer Tänzchen im Kornfeld für Weltfrieden und gegen das Establishment zu einem Selbsterfahrungslauf über glühende Kohlen. Die Naivität ist zum Teufel, wenn man die Welt tatsächlich verändern kann.
1968 kracht nach wenigen Jahren ideologisch auseinander. Die nachfolgende Generation kann in dem so entstandenen bizarren Krater spazieren gehen. Aber mit den richtigen Drogen und dem Blitz ist es noch wie früher. Synästhetik wird unterschätzt, wenn es um die kitschfreie Rekonstruktion vergangener Zeiten geht. Cailloux beschreibt das Licht zur politischen Haltung, die Drogen des Widerstands und die Musik zur Bundesrepublik der späten 60er Jahre. Lichtmetaphorik trifft Lifestyle, und das Ergebnis ist überzeugend. Nichts funktioniert, außer das verdammte Geschäft, das aber mit tragikomischer Perfektion. Bernd Cailloux ist mit seinem ersten Roman ein unsentimentales Stück Literatur über das Jahr ’68 gelungen. Er bildet keine Legenden. Seine Sprache ist trocken, aber die Zurückhaltung täuscht genauso wie der bürokratische Titel und das nicht für Epileptiker geeignete Cover. Es ist kein Spaß, sondern noch viel lustiger. Es gibt nichts Seltsameres als Zeitgeschichte.
Gustav Mechlenburg
Bernd Cailloux: Das Geschäftsjahr 1968/69, Suhrkamp 2005, 254 Seiten, 10 €