Text-Trance
Der historische Roman als Gegenwartsroman und umgekehrt: Das ist ein schwieriges Unterfangen. Bereits im Juni auf dem Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, bei dem die in Hamburg lebende Schriftstellerin und Literaturkritikerin Dorothea Dieckmann einen Auszug aus dem nun erschienenen Buch las, nahmen die Kritiker einen historischen Roman, der sich einer fernen Vergangenheit annimmt, weitaus offener auf, als diesen, der in einer ungeklärten Gegenwart spielt. Aber Gegenwart ist immer unklar, das macht sie aus. Und da das Sujet dieses Textes das Innenleben eines Mannes namens Rashid ist, der im US-Gefängnis Guantánamo auf Kuba unter körperlichen Qualen fast die Besinnung verliert und ihm dadurch die Erinnerung verschwimmt, wird deutlich, warum das literarische Experiment stets an der Grenze seiner Realisierbarkeit operiert. Es geht um den Verlust von Sprache, Welt, Außen und Innen. Und der Text ist eine Trance zwischen Erwachen, Ahnen, Fühlen und Nichtverstehen. Dabei hortet er Lawinen von Aufzählungen und Beschreibungen. Der Protagonist Rashid ist in die Zeitfalle des US-Militär-Gefängnisses verfrachtet worden und wartet auf Erlösung - wobei unklar bleibt, ob er sich den Tod mehr wünscht als die Freiheit, die Unklarheit mehr als die Klarheit. Denken tut hier niemand, auf keiner Seite. Die MPs und Protokollanten sind anonyme Hebel. Es bleibt auch unklar, inwieweit Rashid wirklich ein Terrorist ist („Ja, es waren Moslems. Nein, es waren keine Taliban. Nein, ich kannte sie nicht. Vielleicht waren es Taliban. Ja, Männer waren auch dabei. Aber sie kamen immer nur zum Schlafen.“), oder ob die Umstände ihn zur falschen Zeit an den falschen Ort katapultierten und er nur Zeuge war.
Dorothea Dieckmann hat sich ein Häftlingsschicksal geborgt, es ist nicht ihres: Die Erlebniswelt Rashids bleibt vorhersehbar. Der Roman führt auch mehr in die Gefangenschaft als in einen Menschen hinein.
Aber es ist die Trance, die gelingt. Der Leser nimmt mit der Fiktion des Rashids Kontakt auf und schweigt neben ihm in der Zelle für die Dauer des Buches. Und in diese (unfreiwillige) Meditation hinein läutet ein Alarm. Die Sprache eines brutalen Wirkens zerrt unaufhörlich am Leser und will von der Unerhörtheit berichten, dass eine Macht das Andere durchdringt, bis es aufgelöst ist; Kapitalismus- und Religionskritik inklusive. Das nervt natürlich auch, muss nerven. Bei aller Kritik an der unglücklich gewählten Erzählposition, deren Empathie aufgesetzt wirkt: Im Roman „Guantánamo“ wird das Schweigen des Denkens zur Metaebene und zu einer Metapher für diese Ära.
Carsten Klook
(verändert erschienen in der Financial Times Deutschland vom 20. August 2004)
Dorothea Dieckmann: Guantánamo, Roman, Klett-Cotta 2004