6. März 2007

Gelungenes Mammutunterfangen

 

Der 1977 in München geborene Thomas von Steinaecker, der bei Textem bereits „Goetz“, eine so genannte „Travestie“ veröffentlicht hat, erzählt in seinem Debütroman „Wallner beginnt zu fliegen“ auf 360 Seiten die Geschichte von vier Generationen (obwohl das Info nur von dreien spricht). Dieses Mammutunterfangen meistert der junge Autor mühelos und ohne Kraftakte.

 

Es beginnt mit einem Unfall: Der alte Günter Wallner kommt bei einem Zugunglück ums Leben. Sein Sohn Stefan, Inhaber einer Firma für Landmaschinen, löst die Wohnung des Verstorbenen auf und wird sich der Kälte bewusst, die lebenslang zwischen ihm und seinem Vater bestand.

Im ersten Drittel des Romans wird dem Leser eine Leidenschaftslosigkeit vor Augen geführt, die das mangelnde Interessiertsein von Menschen aneinander eindrücklich erfahrbar macht. Als wäre das Leben eine trockene Auflistung von Dingen, Fahrten, Bewegungen und Namen - ohne allzu große Emotionen.

Die entstehen gelegentlich eher durch das Weglassen und Nichtbenennen. Der trockene Erzählton, der nicht nach Beifall heischt, keinen falschen Witz zeigt und eher beklemmend wirkt, ist zuerst nur ein Träger für Handlungsketten und macht immer wieder einen Mangel deutlich. Man fragt sich, ob das so weitergeht ... und wird in seiner Erwartung noch einmal enttäuscht, im positiven Sinne.

Stefan Wallners Sohn Costin, dem das zweite Drittel gewidmet ist, entpuppt sich nämlich als gefährlich aktueller Zeitgenosse, der seine Karriere als Superstar in einer vom Fernsehen gecasteten Popband beginnt. Später wird er als Synchronsprecher in einem Hitler-Zeichentrickfilm arbeiten  und als Ex-Promi in einer Reality-Show mitwirken. Seine Endstation ist dann die Gründung eines Indie-Musiklabels. Erst im mittleren Alter erfährt der überraschte Costin, dass er eine uneheliche Tochter namens Wendy hat. Die trifft ihren leiblichen Vater das erste Mal kurz vor ihrem 18. Geburtstag. Wenig später stirbt Costin, was in der Schilderung recht trocken ausfällt.  Nach seinem Tod recherchiert Wendy die Historie ihrer Familie und schreibt sie in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts auf: Wendy wird damit zum Ruhepol und zum Gedächtnis der Familie. Man wird als besorgter Leser beruhigt (und geradezu entsorgt), dass es so etwas auch noch in der Zukunft geben wird: Geschichtsbewusstsein, Anteilnahme, seelische Prozesse. Wendy verarbeitet die Ereignisse emotional - etwas, zu dem ihre Ahnen in ihrem atemlosen Dasein nicht kamen. Das ist dem Roman vielleicht am höchsten anzurechnen: dass er das, was heute verloren zu gehen scheint, in seinem Gelingen in die Zukunft projiziert und damit rettet. Statt auf selbsterfüllende negative Prophezeiung, Jammerei und Klage setzt der Autor auf  Humanismus und das hoffnungsvolle Einlösen menschlicher Werte. Das wirkt schon sehr erstaunlich.  

Thomas von Steinaecker meistert das Ineinandergreifen der Biografien gekonnt. Der anfänglichen Nüchternheit folgt die schnelle und hohle Sprach-Wirklichkeit unserer aktuellen Mediengesellschaft. Wendys Blick auf die Zusammenhänge ist durch Warmherzigkeit, Analytik und eine naive Frische geprägt.

Comics im Wendy-Teil unterstützen die Assoziationen an Juvenilität auf eine bizarr anmutende Weise, was dem Roman etwas Spielerisches verleiht.

Steinaecker zeigt den Einzelnen als Spielball privater Umstände und historischer Vorgänge, die bis in die Sprache hineinwirken. Ein gelungenes Debüt.

 

Carsten Klook

 

(Der Artikel erschien in abgewandelter Version im Magazin „Style & The Family Tunes“ im März 2007)

 

Thomas von Steinaecker, Wallner beginnt zu fliegen, Frankfurter Verlagsanstalt 2007, Hardcover, 19.80 Euro

 

www.frankfurter-verlagsanstalt.de

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