Reisen ohne anzukommen
Von Gustav Mechlenburg
Reiseliteratur: Checker erzählen von ihren Abenteuern und wie sie Unbilden meistern, hervorgerufen von Einwohnern oder abseitigen Wegen. So kennen wir es. Jeder coole Reiseführer legt ein Zeugnis solchen Genres ab.
Nichts von alledem in Matthias Polityckis „Das Schweigen am andern Ende des Rüssels“. Ob Handlungsreise oder Safaritour, ob Pauschal- oder Tauchurlaub, hier werden keine Einzelgänger beschrieben, die fremde Welten erobern. Vielmehr stehen oft Reisegruppen im Fokus der Erzählungen. Und die Dynamik innerhalb der wahllos zusammengewürfelten Teilnehmer sticht das zu Erlebende der Umgegend um Längen. Jeder, der mal mit Neckermann und Konsorten unterwegs war, kann ein Lied davon singen.
Heraus sticht vor allem eine wunderbar ironische Geschichte über einen sowjetischen Reisebegleiter, der sich so richtig ins Zeug legt. In allem, was er arrangiert, geht es immer ums Ganze, die sowjetische Welt und nicht zuletzt um die Vermehrung des Glücks in der Welt. Anfangs ist den Urlaubern nicht ganz klar, was sie von ihm halten sollen. Ist Pjotr ein Tolpatsch, der seine Spleens an arglosen Touristen auslebt, oder soll seine gespielte Weltfremdheit nur davon ablenken, dass er ein Spitzel des KGB ist? Man einigt sich schließlich darauf, dass er wohl schlichtweg mit der Abwicklung seiner eignen Seltsamkeiten genug zu tun hat.
Ebenfalls herausragend die witzig-traurige Erzählung „Zu dumm zum Tanken“.
Nach verzweifelt gescheiterten Versuchen, eine Tanksäule in den Südstaaten mithilfe der Gebrauchsanweisung in Gang zu setzen, muss sich der ausländische Fahrer den kulturellen Eigenheiten geschlagen geben. „Da begriff ich, in dieser langsamen leeren Sekunde, dass ich keine andre Wahl mehr hatte. Und gab auf. Gab zu, dass mir neun Jahre Englischunterricht, dass mir der eine oder andere Aufenthalt in England, ja sogar im Norden, im Osten, im Westen der USA nichts gebracht hatten, gar nichts, um hier, im großen alten Süden, zu überleben, gab auf und ging festen Schrittes zum Kassierer.“
Matthias Politicky, unter anderen bekannt durch seine Bücher „Weiberroman“ und „Ein Mann von vierzig Jahren“, hat mit seinem neuen Band ein Exempel zu seiner eigenen Theorie statuiert. In der Esseysammlung „Neue Theorie für die neue Literatur“ hatte er von der „neuen Äußerlichkeit“ und der „neuen Lesbarkeit“ in der Literatur gesprochen. Er plädiert darin für eine Pflege der literarischen Oberfläche. Die popliterarischen Geister, die er mit seinem Eintreten für die Achtundsiebziger („Literatur muss sein wie Rockmusik“) auf den Plan rief, versuchte er mit der Rückbesinnung auf Form und Genre zu bändigen.
Dieses Ringen um stilistische Notwendigkeit ist schon dem Aufbau seines „Das Schweigen am andern Ende des Rüssels“anzusehen. Absolut symmetrisch sind die Geschichten angeordnet. Prolog und Epilog reflektieren die Erinnerungen des Erzählers. In ihnen besinnt sich der Verfasser jeweils eines „schrecklich schönen Tages“.
Dieser Tag „war nicht interessant. Der war vielmehr so schön, dass ich ihn am liebsten gar nicht erst erlebt und am zweitliebsten sofort wieder vergessen hätte, weil ich ja wusste, weil ich in jeder Faser wusste, dass ich den Rest des Lebens verdammt alleine bleiben würde mit all diesen Seerosen, den Reihern und den Adlern ...“
Im Zentrum des Buches eine Geschichte, die nicht von fernen Ländern handelt, sondern von der Lesereise eines Schriftstellers. Dessen Vater liegt im Sterben und die Sorge, die ihn von Termin zu Termin begleitet, mündet in professionelle Apathie.
Dazwischen perfekt durchkomponierte Erzählungen, die alle über einen Bruch in der Handlung miteinander verwoben sind. Ausgelöst durch eine Verwunderung oder ein Erschrecken entsteht eine Stille, die Einlass bietet für das Bewusstsein einer gleichzeitig möglichen Erfahrung irgendwo sonst in der Welt.
Politickys Geschichten sind teils absurd-witzig, teils tragisch. Doch immer schwingt eine tiefe Melancholie in ihnen mit, geboren aus der Furcht, das Andere nicht zu verstehen.
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Matthias Politycki: Das Schweigen am andern Ende des Rüssels, Hoffmann und Campe 2001