Tragik und Trägheit der Informationsübertragung
Freiheit braucht Zeit. Und natürlich ganz viele andere Dinge wie Macht und Mut. Manchmal lassen es die Verhältnisse nicht zu, dass man konsequent ist und das sagt und tut, was man will. Setzt man sich über sie hinweg, bekommt man die Konsequenzen der anderen zu spüren wie seinerzeit Baruch de Spinoza, der zunächst aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde (kherem, 1656), später mit dem Verdikt belegt wurde, niemals mehr zu ihr zurückkehren zu dürfen (chammata). Sechzehn Jahre vor Spinozas Ausschluss hatte dessen Onkel – zumindest in Gutzkows gleichnamigen Trauerspiel „Uriel Acosta“ (1846) – ähnliche Probleme mit den Glaubenswächtern, allerdings mit tragischeren Folgen, und das meint hier natürlich: mit tödlichen.
Uriel Acosta ist ein Intellektueller avant la lettre, als der Glaube welcher Couleur auch immer es mit der Vernunft und ihren erhellenden Interventionen zu tun bekommt. Später, im 19. Jahrhundert, wird es nicht mehr nur um richtiges Denken gehen, sondern, das sah das „Junge Deutschland“, wozu Karl Gutzkow als politisch-literarischer Bewegung zwischen 1830 und 1850 gehörte, ganz richtig, auch und vor allem um politisches Handeln. So weit war man im Jahr 1640 noch nicht. Es war skandalös genug, wenn jemand sich auf andere Quellen als die heiligen Schriften berief. Genau das tut Uriel Acosta, der ein ketzerisches Werk geschrieben hat, das die jüdische Gemeinde in Amsterdam vehement ablehnt. Sein Problem ist, dass er nicht auf eigene Faust und Rechnung agieren kann. Er ist der Sohn einer blinden, gebrechlichen Frau und vor allem der Liebhaber eines hübschen jungen Mädchens, Judith, deren Vater ein etwas betriebsblinder Kaufmann ist, der sich mehr für den Skulpturenpark in seinem Garten als für mögliche Gefahren bringende Konstellationen interessiert.
Leider hat Uriel Acosta den reichen Kaufmann Ben Jochai, Judiths Verlobten, während dessen karrierebedingter Abwesenheit, ausgespannt. Während Acostas erster, noch inoffizieller Ächtung schlägt sich Judith zwar auf seine Seite, aber die gesellschaftliche Gewalt nimmt unerträgliche Ausmaße an. Auch Judith rechnet mit Uriels Widerruf, der aber hart bleibt und glaubt, nur seinem Gewissen hörig zu sein. Dann sieht sich Acosta diesem fatalen tableau vivant gegenüber, bestehend aus seiner Mutter, den Brüdern und der Geliebten, die alle darum flehen, dass er das ihnen doch nicht antun könne. Vor so viel Familienverstrickung versagt Uriels intellektuelle Redlichkeit, er eilt zur Synagoge, um sich auf die Abbitte vorzubereiten. Derweil hat Ben Jochai fleißig intrigiert. Er will Judith zurückbekommen und droht damit, ihren Vater an der Börse keinen Stich mehr machen zu lassen. Außerdem stirbt Uriels Mutter. Judith lässt sich auf das Damenopfer ein, und jetzt gäbe es eigentlich keinen Grund mehr für Acosta, noch länger den reumütigen Renegaten zu spielen.
Aber natürlich geht es hier wie bei Shakespeare zu, die Informationen kommen nicht rechtzeitig an, Uriel befindet sich bereits auf dem Weg der erzwungenen Rückkehr. Und dann erfährt er es doch noch. Er wird wütend, sein Neffe Baruch de Spinoza, achtjährig, kann ihn ein wenig beruhigen (und später als Junggeselle selbstbewusster auftreten, wenn es darum geht, standhaft zu bleiben, doch das steht nicht mehr in diesem Stück). Dann findet auch schon die Hochzeit statt, und Judith bringt ein weiteres Opfer, sie bringt sich nämlich um, da sie weiterhin Uriel liebt, zugleich aber ihrem Vater schuldig war, ihn zu retten. Ein schlechter Kompromiss jagt den anderen, aber so sind die Verhältnisse, Romeo schließt seiner Julia noch die Augen und jagt sich dann selber eine Kugel in den Kopf.
Galileo Galilei hatte recht, die Erde dreht sich „doch“, aber sie dreht sich immer noch in die falsche Richtung, dagegen haben auch „überzeugungsreinere“ Zeiten, wie in diesem Stück zuletzt gefordert, nichts geändert.
Dieter Wenk (10.05)
Karl Gutzkow, Uriel Acosta, in: K. G., Ausgewählte Werke, Berlin o. J. (Otto Hendel Verlag)