Chaotische Prozesse und schwarze Kanäle
Marken beherrschen die Welt. Ob Nutella, Derrida oder „Die Weißen“, man erkennt seinen Artikel schon von weitem und freut sich über einen besseren (oder billigeren) Verbrauch. Die kaum noch wahrzunehmenden Unterschiede zwischen den Produkten werden von den Marken im Namen des Namens wiedervergrößert. Atlanten verfahren ebenfalls nach diesem Prinzip; ein einziger Strich genügt, und es gibt eine Grenze, die in der Wirklichkeit gar nicht markiert zu sein braucht. Umgekehrt bleiben imaginäre Grenzen noch lange bestehen, nachdem die Mauer in der Realität schon lange gefallen ist.
Michel Serres spricht in seinem „Atlas“ von alten und neuen Atlanten. Atlanten kartografieren die Welt. Aber wie? Der alte Atlas ist ein statisches Produkt, er mag unzählige Karten in sich versammeln, allein jede Karte ist ein- für allemal gezeichnet, fix, starr. Meist funktioniert sie nach dem Prinzip „Spitze der Pyramide“: Hauptstädte, größte Flüsse, höchste Berge, tiefste Meeresgräben. Lokalitäten als eminente Singularitäten. Michel Serres fragt: Wo finde ich auf diesen Karten die Austauschprozesse; wer zeigt Entsprechungen fernster Plätze an; wie kann ich geografische Objekte als kommunikative Speicher thematisieren? Das Thema dieses Buches: der Versuch einer anderen Art des Sprechens über Globalisierung. Seine Schwierigkeit: Es ist anfangs- und endlos. Sein Joker: Es spricht prophetisch.
Es gibt in diesem Buch nicht viel zu sehen, keine Karten, keine Diagramme, keine Statistiken, keine Zahlen. Dafür steht allenthalben das große „Wir“, in dem man es sich bequem machen kann, den schwierigen und unwegsamen Transport besorgt der Autor. Michel Serres ist froh über alle Arten von Öffnungen und Unvorhersehbarkeiten. Mediale Virtualitäten negieren die früher so starre Opposition von nah und fern. Man wird (im Buch, im Leben) überschüttet von Potentialitäten, es gäbe so viele mögliche Welten, und immer noch klebe man an seinem armseligen Subjekt-Dasein. Serres wirft sogar Heidegger aus dem Haus des Seins. Heutige Zuhandenheit gehe über die Werkstatt des Schmieds hinaus, das Da-Sein ist Überall-Sein, die Schwarzwaldhütte hat ihr Pendant möglicherweise in Papua-Neuguinea. Die Erbschaft ist eine universale, die Nation ein Sprungbrett, die eine andere sein wird, wenn man wieder auf ihr landet.
Dieses Buch ist konsequenterweise nicht mehr utopisch, sondern „pantopisch“. Es geht in ihm zu, wie wenn Gilles Deleuze aus seinen tausend Plateaus einen Faltplan gebastelt hätte. Keine Linearität, kein einmal gehaltenes Codierungsniveau, Tim und Struppi winken Maupassants „Horla“ zu, 1789 erhält eine globale Note, noch einmal wird der Versuch gemacht, die Glücksformel nicht für die happy few zu reservieren: „Positives Glück könnte sich einstellen, wenn wir in uns und für uns vielfältige Fachkenntnisse ansammelten, wenn wir lernten, Kenntnisse sammelten, uns spezialisierten und miteinander kommunizierten – welch ein Traum! –, ohne durch die Leidenschaft des Neides oder verletzender Konkurrenz gehen zu müssen, ohne die Verlierer auszuschließen und zum Hunger zu verdammen, ohne in den Parnass aufzusteigen und Hierarchien einzurichten.“
Serres ist natürlich nicht so naiv, dass er nicht auch die schwarzen Kanäle kennte, aber er ist hier ganz 17. Jahrhundert. Die beste aller möglichen Welten ist möglich. In diesem „Atlas“ wird man sie allerdings (noch) nicht finden. Und ob die Völker die Signale nicht nur hören, sondern auch richtig interpretieren, wird die Zukunft zeigen. Vielleicht gehen sie aber auch mit dem Wind.
Dieter Wenk (10.05)
Michel Serres, Atlas, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Berlin 2005 (Merve); Atlas, Paris 1994 (Edition Julliard)