9. September 2005

Prärevolutionäre Stilübung

 

Niemand unterhält so ausgezeichnete Beziehungen zur Figur des Vaters wie die Psychoanalyse. Das mag auch daran liegen, dass die singulären Ein- und Ausgänge zu einigen ihrer Vaterfiguren unwiederholbar und zugleich, jedoch auf einem anderen Niveau, beispielgebend sind. Man denke nur an den Namensspender des berühmtesten ihrer Komplexe, der selbst all das erfuhr, was nach ihm verboten war. Oder an den totemistischen Urvater, der mehr Vater war als erlaubt. Oder an den Erfinder der Psychoanalyse selbst, dessen „Kinder“ es nicht einfach mit einer zu falsifizierenden Hypothese zu tun hatten. In all diesen Fällen wird ein Riegel vorgeschoben vor die nur allzu berechtigten Befürchtungen noch ausstehender Exzesse, denen man anders nicht Herr werden konnte. Die Ersetzungsprozedur, die dabei am Werk ist, lässt den symbolischen Vater an die Stelle des realen Vaters treten. Ein anonymes Regelwerk verabschiedet eine Instanz mit allen Zugriffsrechten.

 

Vor diesem Hintergrund fällt es nicht schwer, den Dekalog als unhintergehbare autoritäre Schranke in diese Logik der Vermeidung eines drohenden Exzesses mit einzubeziehen. Denn, so Slavoj Žižek, es ist nicht so, dass autoritäre Strukturen den Weg versperren für durch jene erst unterdrückte harmonische Anfangszustände qua Paradies oder, in umgekehrter Richtung des Zeitstrahls, für beschauliche Argumentationsgehege konsensualer Gemeinschaftswiesen; es ist zugleich viel schlimmer und viel besser: Denn auch wenn nach Žižek gilt: „Die Verkündung des Dekalogs ist ,ethische Gewalt in reinster Form’“, so heißt es im gleichen Moment zuzugeben, dass „wir“ nichts anderes haben als ethische Gewalt, allerdings in apotropäischer Form: Die Notwendigkeit ethischer Gewalt liegt nach Žižek darin, „,dass der Geltungsbereich des Gesetzes [des Dekalogs] der einer noch fundamentaleren Gewaltsamkeit ist, nämlich der der Begegnung mit einem Nächsten’: Weit entfernt, brutal eine vordem harmonische soziale Interaktion zu stören, versucht die Auferlegung des Gesetzes, in eine von Spannungen geprägte ,unmögliche’ Beziehung ein Minimum an Regelhaftigkeit einzuführen.“

 

Der Leser von „Die politische Suspension des Ethischen“ befindet sich natürlich mitten in Lacans Welt. Auf den Ringen des Borromäischen Knotens unterwegs, erkennt man unschwer das Symbolische in Form der zehn Gebote und die „Grimasse des Realen“ als das, was es tunlichst zu umfahren gilt. Das Problem mit dem Realen: Man kommt immer wieder an ihm vorbei und es lockt wie Sirenengesang. Deshalb verkündet Žižek in diesem Buch eiserne Disziplin: Wir müssen so standhaft werden wie einst Odysseus. Wir dürfen nicht direkt auf das gelobte Land zufahren. Nur durch großzügige Umgehungen ist der verführerischen Diktatur des Genießens zu entkommen. Und genau das ist die Logik unserer Zeit. Permissivität, wohin man schaut, überall kann man sich (s)einen kleinen Kick holen, und für die große Utopie ist bei all dem Präsentifizierungswahn kein Platz mehr. Doch das, was sich heute als authentisch gibt, ist nicht mehr als eine Deckerinnerung von und zu Seinesgleichen, die in ihrer Platitude vergessen macht, dass der Borromäische Ring erst in drei Dimensionen zu voller Entfaltung kommt.

 

Žižek empfiehlt als Konsequenz darauf, die leninistische Frage „Was tun?“ nicht mit blindem Aktionismus zu beantworten. Es heißt, kühl zurückzutreten und zu überlegen, welche Möglichkeiten bereit liegen, eine zugleich eigenständige und notwendige „kognitive Landkarte“ zu entwerfen, die nicht in Gefahr ist, vom bestehenden alles fressenden System geschluckt oder von diesem selbst überschrieben zu werden. Die Beispiele, die Žižek anführt und von denen er als Modellen spricht, sind allerdings erstaunlich klein oder erstaunlich abstoßend. Es ist also wohl leider so, dass in Lenins Fahrzeug immer auch Stalin mitfährt, der vom anfänglichen Sozius zum Steuermann promoviert. Für Žižek selbst ist das jedoch kein Problem, denn in Stalin west, wie schwach auch immer, das Erbe der Aufklärung, die Erinnerung an einen „Raum“, etwas vernünftiger als bisher einzurichten sei. Anders als Hitler wahrt Stalin die Form des letalen Vollzugs. Auch wenn „Barbara“ in Moskau und Sibirien nicht mehr die gleiche ist, so erkennt man doch noch den argumentativen Schimmer.

 

Wenn Žižek also ein Kapitel mit „Die Utopie und die sanfte Kunst des Tötens“ überschreibt, so haben wir ihn uns als einen durch die Postmoderne besänftigten Stalin vorzustellen, der das Anfangsbeispiel der Auferlegung des Dekalogs nicht einfach als superbe Fingerübung spielen ließ, sondern einen nicht zu übersehenden Wink mit dem Zaunpfahl ergehen ließ in der Absicht, den eingeschlafenen bzw. pervertierten Exzess des Realen mit einem neuen Geschirr zu bändigen. Wir müssen uns also den Revolutionär wie den (lacanistischen) Psychoanalytiker als jemanden vorstellen, der sich nur durch sich selbst autorisiert.

 

Wessen Leben ein wenig an Spannung verloren hat, dessen Aufgabe besteht als erstes darin, dieses Buch zu lesen (allein das Schumann-Kapitel ist in seiner grandiosen „Nichtigkeit“ Gold wert), als zweites, seine Urlaubsziele etwas mehr in die Peripherie zu verlagern, wo er in postromantischer Absicht sich ein wenig in der Hieroglyphenschrift kommender Ereignisse üben kann (der Favela-Bewohner wird es ihm wie auch immer danken) und als drittes sich mit anderen darüber tabellarisch auszutauschen, auf was man künftig wird verzichten können (zum Beispiel auf das Diktat des Wirtschaftswachstums) oder was man sich wird aneignen müssen (mehr Kühle, weniger Coolheit: Das wird zugegebenermaßen sehr schwer fallen). Dieses Buch ist ziemlich verrückt. Aber das kommt davon, wenn man „Objekt klein a“ zum logistischen Avatar macht.

 

Dieter Wenk (09.05)

 

Slavoj Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Frankfurt a.M. 2005 (Suhrkamp)

 

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