10. Juli 2005

Fraglicher Genuss

 

Wer glaubt, in vollen Zügen genießen zu können oder genossen zu haben, irrt. Denn der Lacanismus, der behauptet, in diesen Dingen ein Wörtchen mitzureden zu haben (also als Essenz, natürlich schön verpackt – oder eher verkleistert – in glitschigen Signifikanten), verkündet die unfrohe Botschaft, nach der keine (oder doch arg verminderte) Lust sei, wo der Signifikant west. Das könnte ein Antrieb sein, sich verstärkt mit Ethik zu befassen. Denn die Psychoanalyse als Lustdämpfer, die uns mitteilt, dass unsere Lüste nur mit Simulakren ausgestattet seien, könnte der Einsicht förderlich sein, dass es mit eben dieser Lust nichts oder nicht so viel sei und man es eher gleich mit der Erprobung von asketischen Idealen halten solle. Wenn, ja wenn da nicht der lacanistische Imperativ wäre, der einen dazu auffordert, niemals in seinem Begehren nachzulassen. Keine Frage, dass dieses Begehren nicht das nach dem kategorischen Imperativ ist. Wenn es das gewesen wäre, hätte Kant nicht so viel Scholastik bemühen müssen.

 

Aber auch Lacan hat seinen Imperativ nicht in einer gönnerhaften Laune formuliert, nach der jeder so viel ficken solle wie möglich. Man muss ihn eher wie einen Fluch lesen. Da wir eh nicht bekommen, was wir wollen (wir wissen auch gar nicht, was wir wollen, könnten das schon gar nicht formulieren – und wenn, na ja), müssen wir immer weiter hoppeln, weil „es das nicht gewesen ist“. Die „jouissance“ ist nichts anderes als ein Schmuck, ein agalma, mit dem wir andere blenden, ein passageres Gleitphänomen, ein Toboggan, auf dem wir uns kurzfristig vergnügen, bis zum nächsten anstrengenden Aufstieg. Würde man sich unter solchen Verhältnissen nicht doppelt belasten, wollte man Psychoanalyse und Ethik zusammenschweißen? Der Autor, der in seiner Studie auf wenig Gewissheiten und ganz viele offene Fragen gestoßen ist, die an dieser Stelle aufzählen zu wollen den Rahmen dieser Betrachtung sprengen würde, hat diesbezüglich keine Illusionen zu verlieren: „Dass der in dieser Untersuchung analysierte Beitrag der Psychoanalyse zur Ethik in der ethischen Debatte auf große Resonanz stoßen wird, ist nicht allzu wahrscheinlich.“

 

Das liegt aber nicht nur an der Komplexität des Gegenstands (oder vielmehr an den zu hohen Ansprüchen an Ethik), als natürlich an der verquasten Sprache, derer sich Lacan und die Lacanisten bedienen und auf die ganz zu verzichten auch die nicht vermögen, die sie eher abstoßend finden. Der Autor stellt redlich vieles infrage, was andere als selbstverständlich absegnen würden, und doch verbleibt auch er in einem Schreibrahmen, der einen schon zu oft unbefriedigt gelassen hat. Auch wenn es den Intentionen des Meisters (Lacan) zuwider läuft: Etwas mehr Arbeit am Begriff täte gut. Dass auch das nicht hinreicht, sieht man bei Kant. Skylla und Charybdis heißen hier Gerüst und Suppe. Dass sich in der Ursuppe des Unbewussten auch Buchstaben finden, ist ein Axiom Lacans. Ob aber „die Annahme des Unbewussten als einer ethischen Größe einen Ausweg“ aus dem beliebten Fragespiel zu beschreiben erlaubt, ob man wissen könne, man habe endlich einmal aus nur moralischen Gründen gehandelt (unter Vernachlässigung anderer Fragespiele), daran kann man berechtigte Zweifel haben. Eine Doktorarbeit mit Aufsitz-Charakter, irgendwie.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Tim Caspar Boehme, Ethik und Genießen. Kant und Lacan, Wien 2005 (Turia + Kant)

 

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