Die Mägen des Autors
Bis zu seinem zehnten Lebensjahr nur drei Personen aus Fleisch und Blut kennen gelernt zu haben dürfte Weltrekord sein. Jean-Paul Sartre sei postum für die Aufnahme ins Guiness-Buch der Rekorde vorgeschlagen. Die Mutter also und die Großeltern mütterlicherseits (Karl und Louise Schweitzer, Karl ein Onkel des berühmten Albert Schweitzer), der Vater des kleinen Poulou starb, bevor sich dessen Schatten über ihn werfen konnte. Ein Leben ohne Überich, frohlockt der Autor, ein Leben in totaler Freiheit von früh bis spät einschließlich Traum. Bis die Buchstaben kamen und um Einlass baten. Ein monströser Lustzwang wird beginnen.
Die ersten Bücher, die der kleine Jean-Paul in den Händen hält, werden fantasiert. Als-ob-Lektüre. Das macht Eindruck bei den anderen. Dann kommt die Alphabetisierung, die zwei Stunden in Anspruch nimmt. Ab da ist die Bahn frei. Lesen ohne Ende. Lesen, so ist auch der erste Teil dieser Autobiografie überschrieben. Der zweite Teil heißt Schreiben. Die Outputtaste wird durch ein freundliches Zureden des Großvaters eingerichtet. Der Kreislauf ist perfekt. Autor sein, es gibt kein erhebenderes Gefühl. Auch wenn man nicht weiß, was man geschrieben hat. Die gefüllten Blätter haben keine andere Funktion, als gefüllt zu werden. Und dass man dem kleinen Schriftsteller dabei zusieht. Das Geschriebene darf danach direkt in den Mülleimer wandern. André Gide, der etwas älter war, als er mit Schreiben begann, war raffinierter und brauchte die anderen erst gar nicht. Er versuchte, sich selbst beim Schreiben zuzuschauen; dafür brauchte er nur einen Spiegel, in den er von Zeit zu Zeit selbstverliebt sah. Poulou lässt sich über die Schulter kucken und tut so, als ob er nichts merkt.
Da die realen Kommunikationsplätze bei drei Bezugspersonen sehr begrenzt sind, bleibt der frische Literaturproduzent gleich geschlossen in der Fantasiewelt. Das Gelesene braucht bloß umgeschrieben zu werden. Mit den bedeutendsten und pompösesten literarischen Figuren lässt sich angenehm ein eigener Zukunftsauftrag entwerfen. Um nichts weniger als um die Rettung der Welt geht es. Wenn Ontogenese und Phylogenese zusammengehen, dann ist die littérature engagée das erste Produkt der Weltliteratur. Literatur ist Religion. Die Welt ein Spezialgebiet von Wörterbuch und Grammatik. Deshalb muss jeden Tag geschrieben werden. Wenn das, was in diesem Buch steht, auch nur ansatzweise stimmt und das Bild des werdenden Autors auch nur in wenigen Zügen repräsentativ ist, dann sind Schriftsteller Monster. Die heutige Lesebühne des ambulanten Autors ist die frühere Attraktion des Jahrmarkts und die Spielwiese der Zirkusarena. Elefantenmenschen warten auf dich und lullen dich mit ihren kleinen und großen Perversionen ein. Und doch liegt eine fürchterliche Verwechslung vor. Wir halten Schriftsteller für vorbildliche Menschen. Für Bildungsgut im Konversationsrahmen. Wir deuten das alberne Theater um in Erhabenheit und Zukunftsverpflichtung. Wir lernen Jean-Paul Sartre in diesem Buch nur bis zum Alter von etwa zehn Jahren kennen. Mehr braucht es auch nicht, denn mit zehn steht die Anlage, und sie ist furchtbar. Kein Grund, Mitleid zu haben, aber preisverdächtig ist hier nichts. Im selben Jahr des Erscheinens von „Les Mots“, 1964, lehnte Sartre den Literaturnobelpreis ab.
Dieter Wenk (06.05)
Jean-Paul Sartre, Die Wörter, Rowohlt, übersetzt von Hans Mayer (Les Mots, Paris 1964)