3. Juni 2005

Kür will Pflicht

 

Es gibt einen beeindruckenden Satz in dieser 1946 erschienenen Streitschrift, man findet ihn unter dem Lemma „Wahl und Bindung“ und er lautet: „Es gibt keine Zeichen in der Welt.“ Damit meint Sartre, dass die Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit, um die es jedem einzelnen bei „substantiellen“ Entscheidungen gehen sollte, nicht à la carte sei. Sie ist nirgends aufgeschrieben, da sie jedes Mal neu zu erfinden ist. Der Existentialismus ist eine philosophische Haltung für kreative Menschen, die auch eine gute Portion Masochismus mitbringen, wenn sie nämlich nicht gleich der erstbesten Wahl nachgeben, die sich bietet. In einem ganz anderen Sinn als der Prediger des AT sagt der Existentialist, dass alles nichtig sei. Keine Lehre von der Erbsünde kann ihm helfen, keine Geschichtsphilosophie ihn über die schlechte Gegenwart retten, keine Psychoanalyse ihm sagen, dass er vergessen hat, seinen Vater zu erschlagen.

 

Das alles und noch viel mehr zählt nicht im Moment, wo es eben keine  Zeichen gibt und der Mensch (so pathetisch ist das) ganz auf sich alleine gestellt ist. Schön paradox heißt es: Der Mensch ist nicht das, was er ist, und er ist das, was er nicht ist (dies eine Übersetzung der Formel, dass die Existenz der Essenz vorausgehe). Überspitzt gesagt, ist der existentialistische Mensch seine Transzendenz. Der Gedanke einer gewissen Leerheit drängt sich bei so viel Abwesenheit auf. Wenn es keine Zeichen gibt, auf die man sich berufen kann (sie sind zwar faktisch in der Welt, zählen aber nicht als Autorität), wer ist es dann „in mir“, der sagt, dass das und das zu tun ist und nicht etwas anderes? Wer ist der Stifter der Entscheidung, und vor allem: Wann ist Existentialismus? Ist es eine Frage der Ernsthaftigkeit, die ihn ins Spiel bringt (Mars oder Bounty)? Gibt es eine Trennung nach Pflicht und Kür? Sartre geht, das obige Zitat zeigte es, von der radikalen Kontingenz der Welt aus und ist damit ziemlich modern. Anders jedoch als andere Kontingenzphilosophien ist Sartre noch sehr mit Fragen beschäftigt, die in dramatischer Weise dem Leibniz-Komplex verhaftet sind, nämlich eine Antwort darauf zu geben, „warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts“. Gott ist nach Sartre tot, es gibt keine bereit liegenden Antworten, Angst entsteht, wenn klar wird, dass man zuletzt nicht weiß, wie man handeln soll. Wie kommt man da aus sich heraus und gleichzeitig in sich hinein?

 

Denn im Grunde muss die existentialistische Entscheidung ohne Vermittlung geschehen. Keine Frage, dass Sartre nicht lange darauf warten musste, um mit André Gides „acte gratuit“ konfrontiert zu werden, der Lafcadios Antwort auf die Frage ist, wie man etwas völlig Unvorhersehbares in die Welt setzen könne. Gide und sein Held landen natürlich prompt in der Amoralität, was für Sartre kein Ausweg ist. Sartres Entscheidung soll nicht nur zeichenfrei (im obigen Sinn von nicht-determiniert), sondern als diese Entscheidung auch repräsentativ, beispielhaft, universal sein. Ist man jetzt plötzlich wieder bei Kant? Ja, insofern der Existentialismus versucht, ein Humanismus zu sein und den anderen einen anderen Freien sein lässt. Nein, insofern kein Sittengesetz die Komplexität der Situation auch nur annährend in einen konkreten Imperativ umzusetzen erlaubte.

 

Der Existentialismus ist so die Hauruck-Philosophie mit der guten Absicht. Sie ist blind wie die Liebe und die Gerechtigkeit und kann letztlich nicht scheitern, denn immer lässt sich sagen: Aber ich habe doch mit bestem Gewissen gehandelt. Ein Existentialist verhandelt nicht, er ist Dezisionist, und das könnte es dann doch ein bisschen schwierig machen, mit ihm klar zu kommen. Take me as I am. – Why?

 

Dieter Wenk (06.05)

 

Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: Sartre, Drei Essays, Berlin 1961 (Ullstein), S. 7-52 (L’existencialisme est un humanisme)

 

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