30. Mai 2005

Ungnade der späten Geburt

 

Das 20. Jahrhundert feierte viele Tode, reale, in unabsehbarer Zahl, und symbolische, so etwa den Tod des Autors, aber auch, und schon früher, den „Tod“ des Vaters, der zunächst als Schwinden der Vater-Imago konstatiert wurde, in den 60er Jahren, bei Alexander Mitscherlich, war die Gesellschaft vollends vaterlos. Jacques Lacans Artikel über „Die Familie“, 1938 in der Encyclopédie veröffentlicht, diagnostizierte nichts anderes. Die Väter, vor allem die symbolischen, sind auf dem Rückzug. Davon gibt auch der Titel dieses schmalen Buches Zeugnis, nicht „Mein Vater“ wird porträtiert (also Jacques Lacan), schmerzlich wird festgestellt und bekannt gemacht, dass der Vater nicht da war, wenn man ihn brauchte.

 

Sibylle Lacan, geboren 1940, ist das dritte Kind Jacques Lacans mit seiner ersten Frau Marie-Louise Blondin, die er 1934 heiratete und die sich Anfang der 40er Jahre von ihm scheiden ließ. Sibylle leidet darunter, die jüngste zu sein (sie hat eine ältere Schwester und einen älteren Bruder), eine feststehende Formel zieht sich durch ihre Kindheit, sie sei immer „dumm, hässlich und böse“, sie ist immer die kleinste in der Klasse mit einem kindlichen Gesicht, das sie auch mit sechszehn noch wie acht aussehen lässt. Später kommt eine „Krankheit“ hinzu mit Symptomen wie Schlafsucht, Trägheit, Vergesslichkeit. Sie beginnt eine Analyse, nach einem Jahr wechselt sie die Analytikerin, weil sich nichts bewegt, ihr Vater empfiehlt ihr eine andere, von der Sibylle später, nach Jahren, feststellen muss, dass sie wohl eine Geliebte ihres Vaters war, worauf Sibylle sofort die Analyse abbricht und sich selbst auf die Suche nach einer Analytikerin macht. Mit fünfzehn erfährt Sibylle, dass sie eine Halbschwester hat, Judith, das einzige Kind aus der Verbindung zwischen Jacques Lacan und Sylvia Bataille. Die Demütigungen ihrer ersten Kinderzeit wiederholen sich nun mit Judith, die ihr Vater abgöttisch liebt und die für ihn gewissermaßen sein einziges Kind ist. Der intermittierende Vater, der Jacques Lacan für Sibylle ist, kann auch ganz nett sein, aber letztlich übernimmt er keine Verantwortung und verhält sich bisweilen wie ein Schwein. Die Bitte etwa, ihr, Sibylle, Geld für eine Operation zu geben, lehnt „Lacan“, der nicht arm war, mit einem kategorischen Nein ab. Später erfährt die Tochter, dass sich ihr Vater bereits in der Phase seines durch zunehmende Aphasie gezeichneten Lebens befand, in der er alle Bittsteller mit einem Nein abfertigte, nur nicht so höflich wie Bartleby. Dass ihr Vater sie auch auf seinem Sterbebett nicht sehen wollte – das teilte ihr Bruder ihr nach dem Tod Lacans dezenterweise mit – versteht sich beinah von selbst. Am Grabmal in Guitrancourt söhnt sich die Tochter mit dem Vater zuletzt doch aus.

 

Sibylle Lacan nennt ihr Schnipselbuch ganz richtig „Puzzle“. Es lässt sich ganz leicht zusammensetzen, und doch hat man am Ende nur eine Karte, auf der ein selbstmitleidiges Mädchen steht, und nicht das Territorium, vor dem man staunen könnte oder auf dem man Lust hätte, sich zu bewegen. Eigentlich muss das, was hier steht, niemand wissen. Dazu ist das alles zu trivial. Anders gesagt, der Leser weiß nicht, was er mit der Karte anfangen soll, ein vernachlässigbares Papier in der Kiste der Devotionalien.

 

Dieter Wenk (05.05)

 

Sibylle Lacan, Ein Vater, Deuticke 1999 (Suhrkamp 2001 ; Un père, Paris 1994)