21. Mai 2005

Ausgesetzt

 

Dies ist kein Buch, wie es das Cover vermuten lässt: Frauenarm lehnt entspannt aus Autofenster, wie ja die meisten zurzeit in Deutschland publizierten Bücher auf den Umschlägen – Frau lehnt an Baum oder Baum lehnt an Frau – einen irgendwie verträumt weiblich-verzärtelten Blödsinn suggerieren. Dies ist ein Buch über eine starke Frau, die gegen verkrustete und menschenverachtende Strukturen ankämpft, um sich selbst zu finden. Und am Ende des dreiteiligen Romans kann man sagen, die Frau hat nicht nur die Strukturen verstanden, sondern sich auch erfolgreich von ihnen emanzipiert.

 

„Ausgesetzt“ heißt der jüngste Roman von Joyce Carol Oates, eine der amerikanischen Schreibschweine, die man schon hinsichtlich ihrer Produktivität in eine Liga mit Paula Fox, Philip Roth und John Updike zählen muss. Über 100 Bücher hat die 1938 geborene Autorin bereits veröffentlicht, „Ausgesetzt“ ist ihr 38. Roman. Ihre unglaubliche Produktivität beschreibt sie selbst als „physisches Bedürfnis“. Für einige Romane, Theaterstücke, Erzählungen und Jugendbücher hat sie hoch dotierte Preise erhalten, für ihre Biografie „Blond“ über Marilyn Monroe wurde sie in den USA für den National Book Award nominiert und alljährlich wird sie für den Nobelpreis gehandelt. Dennoch gilt Oates absurder Weise immer noch als „unbekannte Bestsellerautorin“. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, müsste sich das spätestens mit ihrem neuen Buch ändern. Psychologisch, philosophisch, reflektiert und schonungslos intim beschreibt sie darin die Sozialisation einer jungen Frau im Amerika der 60er Jahre, die nicht zufällig an ihre eigene Befreiung aus ärmlichen Verhältnissen erinnert.

 

Die namenlose Heldin des Romans ist auf der Suche nach einer eigenen Identität. In jungen Jahren lässt sie sich zur Schulsprecherin aufstellen, nicht aus Interesse an der Verantwortung, sondern aus Gefallsucht und um zu prüfen, ob man sie wählen würde. Als es klappt, macht sie erschrocken einen Rückzieher. Dieses Verhaltensmuster kehrt immer wieder. Die junge Frau hat kein Ziel, dem sie über mühsam erreichte Privilegien näher kommt. Später, als sie es schafft, in die elitäre Studentenverbindung „Kappa Gamma Pi“ aufgenommen zu werden, zu der sonst nur reiche Studentinnen Zugang haben, ist sie auch dort sofort wieder allein und hat sich mit ihrem Achtungserfolg um die eigene Tatkraft gebracht. In einer Atmosphäre überheblicher Auserwähltheit grenzt sie sich enttäuscht ab von den Auserwählten, zu denen sie vorher unbedingt gehören wollte.

 

Der Titel der deutschen Übersetzung, „Ausgesetzt“, ist ein brauchbares Vehikel, um die psychische Struktur einer jungen weißen US-Amerikanerin in den 60er Jahren zu schildern, die aus einer durch Alkohol und Tod zerrütteten Unterschichtfamilie stammt. Mit einem Stipendium für Hochbegabte versehen, kommt sie aus dem provinziellen Mief heraus und setzt sich allem aus, möglichst immer dem Kompliziertesten. Ausgesetzt ist sie den genüsslich konsumierenden Kommilitoninnen, deren finanzielle Freiheiten sie nie hatte. Aber sie setzt sich auch absichtlich aus, als sie wegen antisemitischem Gruppenkodex einen Eklat und Ausschluss ihrer Person als Viertel-Jüdin provoziert. Und aussetzen tut sie sich dem in den 60er Jahren in den USA grassierenden Rassismus, als sie sich in einen hochintelligenten Philosophen verliebt, der schwarz ist, von ihr nicht allzu viel wissen will, sie sexuell demütigt und den der alltägliche Rassismus selbst kalt lässt, da er sich abstrakterem Denken verschrieben hat.

 

Joyce Carol Oates laboriert an einem Phänomen, das sich sehr gut an einer Außenseiterin beobachten lässt. Sie wird erzogen im unterwürfigen Glauben, dass die Reichen und Mächtigen, die Klugen und Gebildeten mehr, intensiver und erfüllter, eben intelligenter leben. Immer, wenn die Heldin in diese Kreise kommt, muss sie aber feststellen, dass diese sich in nichts von den Ausgeschlossenen unterscheiden, bis auf die Tatsache, dass sich Eliten mit Bollwerken aus Arroganz abschotten. Dass die junge Frau jedes mal zurückschreckt vor den sich vor ihr eröffnenden Perspektiven, hat weniger mit mangelndem Selbstvertrauen zu tun, wie sie es sich selber immer einreden will, sondern mit der sich ihr offenbarenden dünkelhaften Hohlheit der Strukturen.

 

„Buße“, „Negerfreundin“, „Ausweg“ heißen die drei Kapitel des Romans. Erst im letzten Teil, in dem die Protagonistin ihren längst tot geglaubten, inzwischen todkranken Vater besucht, ist ihre Emanzipation abgeschlossen. Mittlerweile hat sie ein Buch veröffentlicht, ist allein mit dem Auto die weite Strecke von Syracuse nach Utah gefahren und setzt sich mit einem Trick über das Verbot hinweg, ihren vom Krebs entstellten Vater anzublicken.

 

Trotz erfahrener Demütigungen und nicht ersparter Peinlichkeiten berichtet die zurückblickende Icherzählerin von „Ausgesetzt“ immer reflektiert und distanziert, ohne die Nähe zu den Situationen und Empfindungen, die sie beschreibt, zu verlieren. Es ist diese aus der Abwehr des gesellschaftlichen Drucks entstandene Stärke der Erzählerin, die den Reiz von Oates Romans ausmacht. „Wenn es mit uns etwas wird, nehme ich dich irgendwann mit dorthin“, heißt es am Ende des Buchs, als die Heldin am Grab ihrer Eltern steht. Man darf vermuten, dass ihr nicht ganz feiner Philosophenfreund angesprochen ist. „I`ll take you there“, so der Titel im Original. Das klingt versöhnlicher als „Ausgesetzt“.

 

Gustav Mechlenburg

 

Joyce Carol Oates: Ausgesetzt. Roman. 336 Seiten, S. Fischer Verlag 2005, 19,90 €

 

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