Kein Land in Sicht?
Mehr Fürst im Trüben als im Klaren. Martin Mosebachs Roman „Der Nebelfürst“ ist ein treffendes Spiegelbild unternehmerischer Praktiken, aber auch stets optimistisches Beispiel, seinen – mehr oder weniger – eigenen Weg zu gehen. Wer sich beim Lesen des Titels an das Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich erinnert fühlt, liegt der im Buch beschriebenen Bilderwelt und dem zeitlichen Schauplatz gar nicht fern. Vernebelt ist nicht nur im meteorologischen Sinn das Unterfangen des eigentlich zum seriösen Journalismus neigenden jungen Herrn Theodor Lerner, im Kielwasser der Interessen des deutschen Kaiserreiches um 1890 neues Land im hohen Norden in Besitz zu nehmen. Nebulös sind dabei auch seine Absichten. Zuweilen sogar ihm selbst.
Es ist die stets mysteriöse und sowohl rein optisch als auch in ihrer Persönlichkeit sehr gewichtig auftretende Frau Hanhaus, die alle Fäden in der Hand hält und Lerner sozusagen von der Straße weg rekrutiert, damit er Galionsfigur einer spontanen Hochseeexpedition zur polaren Bäreninsel werde. Während seine neue Geschäftspartnerin auf festem Boden zurückbleibt, um im Hintergrund und an der Heimatfront Weltbewegendes zu organisieren (oder einfach nur zusammenzuschustern), ist es nun an ihm, ein herrenloses Stück Land zu besetzen, unter dem angeblich die größten Kohlevorkommnisse in nordeuropäischen Gefilden verborgen liegen. Ein herrenloses „Ruhrgebiet“ quasi, das nur darauf wartet, in privatem und selbstredend nationalem Interesse ausgebeutet zu werden. Den tendenziell in romantischer Selbstbetrachtung in Kombination mit zeitgebundener Ritterlichkeit für solche Argumente empfänglichen Lerner verschlägt es auf einer längeren Odyssee zwar auch zu besagter Insel und wieder zurück, aber vor allem in zahlreiche einprägsame Situationen, in denen er mit den unterschiedlichsten Stadien menschlicher Glücksuche und Ausprägungen menschlicher Wesensart konfrontiert wird.
Enttäuscht von brutaler Erfolgsgier wird er dabei nur insoweit, bis er selbst realisiert, dass es den Personen, denen er begegnet, nicht viel anders geht als ihm selbst. Der ihm so bescherte Alltag ist stets ein Taktieren, Egoismus und Schuldgefühle sind die wirksamen Kräfte wie auch Vertrauen und Überzeugungsgabe, die den jungen Herrn Lerner zwar nicht unmittelbar zum Erfolg, aber letztlich doch zu seinem eigenen Glück führen. Seinem Nachnamen treu ein Lernender, der um seine Erfahrungen stets reicher zu werden weiß. Neben einer in der Thematik der aktiven menschlichen Glücksuche aber auch passiven Schicksalsergebenheit reichen Geschichte sind es die unternehmerischen Anstrengungen und taktischen Konstruktionen, die erheitern, gerade auch mit Blick auf die Praktiken so mancher Geschäftemacher und Finanzjongleure der gegenwärtigen Zeit. Frau Hanhaus und Herr Lerner könnten zwar im Vergleich zu weit skrupelloseren Betrügern und Existenzvernichtern des Internetzeitalters ohne weiteres als die guten alten ehrlichen Hochstapler bezeichnet werden, und man könnte noch hinzufügen: die ihr Handwerk noch verstehen – mit allem, was an Ehre und Berufsstolz so dazugehört. Jedenfalls hätten sie damals schon bewiesen: Man muss kein Dotcom-Cowboy sein, um virtuelle – oder besser – potentielle Herden über ach so grüne Auen zu führen. Man braucht nur einen motivierten und gewichtigen „Bullen“ – der in diesem Fall ausnahmsweise weiblich ist und Frau Hanhaus heißt –, dem die Herde aus potentiellen Interessenten und Profiteuren, wenn auch mit Vorbehalten, wenigstens ein gutes Stück des Weges zu folgen bereit ist.
Das Buch operiert im Grenzland zwischen der politisch legitimierten Abenteurer-Mentalität aus Zeiten kolonialer Interessen, dabei mit Anspruch auf staatliche Unterstützung aus Selbstverständlichkeit, und den halblegalen Geschäften gernegroßer Unternehmer-Gigolos, die im Startup-Dschungel mit Billigung diverser Kapitalgeber zu den glorreichen Haudegen zählen und instinktiv mehr der heutigen Zeit zuzuordnen wären. Wobei natürlich überstandene Schlangenbisse oder narbenträchtige Kampfspuren genauso dem Ruhm zuträglich sind wie durchgestandene Börsencrashs und Insolvenzverfahren. Ob nun damals allgemein mehr Idealismus der Antrieb solch risikofreudiger Geschäftsideen gewesen sein mag oder immer mehr Vorwand schlichtweg barer Gewinnsucht, lässt sich nur erahnen. Eine Hochstaplergeschichte im historischen Gewand als Karikatur unternehmerischer Praxis in einer Welt, in der – vor allem heute – Erfolg in erster Linie wirtschaftlich bemessen wird.
Theodor Lerner schließlich, teils romantisch verzückt von Eisschollen und schneebedeckten Felsen, teils depressiv im Angesicht seiner hochgestapelten Unternehmungen, erkennt am Ende alleingelassen, nur im eigenen Glück seinen Erfolg finden zu können. Er kann nun ein Lied davon singen, im großen Spiel verspielt zu haben, und weiß so aus eigener Erfahrung, dass das durchaus kein Grund ist, ein gebrochener Mann zu werden. Und wer sich bei so viel Schnee und Eis und den Blicken eines verwaisten Betrachters in noch verwaistere Landschaften an ein Gemälde Caspar David Friedrichs erinnert fühlt, liegt wiederum nicht falsch, muss sich aber dank der Lernerfolge dieses Helden keineswegs mehr vor die ausweglose „Wahl“ gestellt sehen: „Das Eismeer oder Die verunglückte ,Hoffnung’“.
Robert K. Huber
Martin Mosebach, Der Nebelfürst. Roman, Frankfurt 2003 (dtv), 299 Seiten