6. Februar 2005

Helden mit Doppelbegabung

 

Bewegte Bilder, also Filme, haben am besten auch Bewegung zum Objekt der Darstellung. Je schneller die Schnitte, umso offensichtlicher die Aggression. Und je brutaler die Szene, umso langsamer kann man sie abspielen. Kugeln, die im Fleisch aufprallen, sind wundersam moralisch blühende Rosen. Womit man beim Kern von Josef Früchtls Untersuchung "Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne" angelangt ist. Es geht um den Western. Den Western der 50er Jahre, eine sonderbare Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man es allerorten mal wieder mit der krampfhaften Beharrlichkeit der Moralapostel, die immer alles besser wissen, und der ähnlich begeisternden Gegenreaktion derjenigen zu tun, die sich immer und immer wieder unverstanden fühlen. Hier trifft das neue Recht auf das alte. Das heißt, dass die Desperados nicht als Verbrecher auf die Welt kommen, sondern nur das mittlerweile falsche Recht als verbindlich betrachten. Eigentlich sind das natürlich alle gute Kerls, aber alles was recht ist, hier geht es immer nur mit rechten Dingen zu. Die Konflikte, um die es sich dreht, sind nur vordergründig Konflikte persönlicher Natur. Es sind Stellvertreter-Kämpfe. Es geht um moralische Regeneration durch Gewalt.

 

 

Es gibt drei Hauptmotive für die Töter. Die ganz schlimmen töten aus Gemeinheit. Die Armen töten, um Geld zu verdienen. Und die Getäuschten töten aus Rache. Meist kommen alle Arten in einem Western vor, und sogar der Held macht eine Entwicklung durch und gehört mal zu dieser, mal zu jener Sorte. Diese Sinneswandlungen haben laut Früchtl etwas mit dem Ich zu tun, das, obwohl man schon seit Jahrzehnten ein braver Farmer ist, an einem schönen Tag auf dem Rübenacker plötzlich wieder Oberwasser bekommt, seine Hülle, den Farmer, dazu bringt, den Colt zu ziehen und knallend und brüllend sein Recht zu verlangen.

 

 

Gute Absichten werden meist zu Schanden gemacht, sowohl von den Scheriffs wie von den Revolverhelden. Einen Western, in dem ein Mann endgültig vom Draufgänger zum frisch gewaschenen, regelmäßig und uneigennützig betenden Christen wird, gibt es jedenfalls nicht. Und das interessiert auch niemanden. Was Früchtl da anschneidet und philosophisch fundiert, ist sittlich interessant, es erklärt auch die Vielzahl solcher Filme über Männer, die ständig in moralischen Zwickmühlen sind.

 

 

Diese sich auch noch stetig zuspitzende Zwangslage macht den Zuschauer bekannt mit Seiten der Person, die man ihr gar nicht zugetraut hätte. Und damit man auch bald wieder aus dem Staunen rauskommt, denn es ist ja kein Tierfilm, wird mit einem Schusswechsel das moralische Schlachtfeld neu aufgestellt. "Individual- und Kollektivmoral müssen einander nicht gegenüberstehen, wohl aber Originalität und sozialkulturelle Regelhaftigkeit" und zwar changierend bei allen interessanten Teilnehmern des Films (die gleich bleibenden Figuren sind bloße Staffage). So kann ein wüster Gangster von der unverhohlenen Anmache durch eine Schöne so verwirrt sein, dass er sich fragt, ob das rechtens sei. Worauf bezieht er sich in so einem Moment? Auf Subjektivität. Das Prinzip der Moderne, ein wenig selbstdestruktiv, so wie es die Romantik entdeckte, das Recht auf Individualität. Und gleichzeitig dasjenige auf Gleichheit, auf die Einheit der Gesellschaft. Selbst und Selbstaufgabe. Opfer und Täter, oder eben Western.

 

 

Wunderbar, die Luft ist verstopft mit Ambivalenzen, und die Teilnehmer schießen sich den Weg durch ihre eigenen Doppelbegabungen frei, nicht selten mitten in das Gesicht des Zuschauers, der Dinge gesehen hat, für die sich der mit der Waffe vielleicht schämt, Rührung, Erinnerungen oder Ähnliches. Diese Kommunikation mit dem Zuschauer ist der entscheidende Unterschied zu Romanen, von denen Früchtl das Genre Kino, insbesondere den Western, den Verbrecherfilm und Sciencefiction, absetzt. In Romanen hat man zwar auch indiskreten Einblick in dubiose Machenschaften, aber nie hat man den Eindruck, den Helden durch die Beobachtung nervös zu machen. Genau das ist aber der Effekt der meisten Western. Sie zeichnen sich durch enorme Sprachlosigkeit aus, die Kommunikation ist auf einen kümmerlich brockenhaften Wortschatz reduziert, genauso wie der aufmerksame Zuschauer auch nur "Hmpff" oder "gib mal" sagt und glotzt, aber nicht in die Augen des Gesprächspartners. Man befindet sich auf Augenhöhe mit den Helden, sprachlos und lauernd, und dieses Lauern bringt tatsächlich die Handlung voran, die Helden passen den Moment ab und schießen, genau das, was man als Zuschauer wollte, wir setzen ihnen zu, damit sie entscheiden, was wir nicht können.

 

 

In Romanen kann man die Zeiten überspringen, aber man kann sie eben nicht, wie Walter Benjamin konstatiert, zerhacken wie im Film, diese Zeit-Zerstückelung, die sinnbildlich sowohl beim Schneiden des Films wie durch die leer zu schießenden Magazine im Plot des Films vollzogen wird, ist der Unterschied zu anderen Kunstgattungen. Nervosität und Ungeduld plus rasende Knallerei, und immer schön schizophren hat der Betrachter zu tun mit ständig rutschenden, wechselnden Sympathien. Im Gegensatz zu Romanen geht es dann nicht weiter, sondern genauso und genauso noch mal. Entscheidung, Entscheidung. Ein Western hängt ohne weiteres 90 Minuten in einer Schleife mit immer der gleichen Melodie. Der Kopfgeldjäger pfeift und auf zum nächsten Gefecht. Man muss sich darüber nicht wundern, denn man spielt schließlich auch einen ganzen Abend Skat, Poker oder Mau Mau. Wesentlich ist solchen Veranstaltungen, dass sie nicht aufklärerisch bildend oder vorbildhaft sind, wie bei Romanen nicht selten, sondern archaisch. Damit wäre dann auch die Frage geklärt, warum Frauen keine Colts haben etc.

 

 

Nun, über riesige Schlachtfelder weht sogleich staatstragender Anstand, es gibt einen Ruck beim Publikum, und man ist sich sicher: Das darf nicht sein. Das ist entweder der Anfang oder der Schluss eines Films. Auch wenn es der Schluss ist, kann man sich freuen, denn es wird weitere Western geben. Jedenfalls sind solche Szenen uninteressant. Interessant sind Zweikämpfe, zwischen Personen und zwischen einer Person und Ich. Sehr schön ist, dass es immer etwas zu kämpfen gibt. Man hat als Zuschauer aus lauter geistigem Komplizentum nämlich bald ganz ähnliche Probleme, weil sich mit diesem immer gleich bleibenden mythischen Leben von zusammengekniffenen Augen und Faustschlägen und Fußtritten nicht arbeiten lässt, es funktioniert nicht. Das ist übrigens auch das einzig lahme Argument der Filmbranche, die wenn sie auf ihre Gewaltverherrlichung angesprochen wird, tatsächlich auf genau diese Grenze hinweist, auf der sich die meisten Filme bewegen. Eben nicht nur bei den Guten und nicht nur bei den Bösen, sondern genau auf der Grenze. Das animiert natürlich trotzdem zur Affirmation. Denn in moralischen Zwickmühlen will man sich und sein Ich schließlich im Griff haben.

 

Gustav Mechlenburg

 

Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004. 421 Seiten, 14,50 €

 

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