3. Januar 2005

„Naturgemäß"

 

Ein Buch für alle. Wer noch nie Thomas Bernhard gelesen hat, kann auch damit anfangen, dann weiß man schon mal, was einem droht. Totale Affirmation, eine hirnerweichende Gläubigkeit. Andreas Maier hat die Prosatexte einer forschen Durchsicht unterzogen. Und benennt die Überzeugungstechnik Thomas Bernhards. Da gibt es einiges zu sagen über den philosophischen Superdenker und fanatischen Wahrheitssucher mit heldischem Lebensmut. Andreas Maier erklärt, warum Leser Bernhard glauben.

 

Maier macht alles, was in germanistischen Hausarbeiten verboten ist. Er ist ungläubig, bissig und ironisch, ungerecht und rebellisch. Es ist hohe Zeit, denn die Bernhard-Exegese verzettelt sich von Jahr zu Jahr mehr in die unglaublichsten Mystifikationen.

 

Der Leser vermisst nichts bei Bernhard, es fehlt aber fast alles. Es fehlen kommunikative Handlungsmuster, obwohl meist einer spricht zu einem, der selber aber nichts sagt. Es gibt keine Rückfragen. Es gibt keine Unterbrechung. Es fehlen Zweifel. Tiefe existenzielle Inhalte werden behauptet, aber man weiß gar nicht, was gemeint ist. Die Rede ist undiskutiert, axiomatisch, konstruiert und doktrinär. Das angeblich totale Praktizieren der Begriffe ist bloß ein Mäandern in der Sprache, ein fabelhaftes Wortgerodel. Alles steht „naturgemäß“ in beziehungsreichen Verbindungen, der Stoff selbst gibt das aber gar nicht her.

 

„Naturgemäß“ ist eine rhetorische Figur, der man sich, bei entsprechend dichter Schlagzahl im laufenden Text, nicht entziehen kann. Das insistierend vorgebrachte Anliegen der größten Genauigkeit, der rücksichtslosesten Aufklärung, die ständige Behauptung der Exklusivität, der außerordentlichen Begabung, der idealen Situation ... das ganze Wahrheitsgetöse schafft wahrlich überzeugende Identifikationsangebote für den Leser, der sich bald genauso radikal und exklusiv vorkommt. Bei ganz schlimmen Fällen hält sich das sogar ein paar Tage, und man faselt probehalber ein wenig wie Bernhard, einfach weil es so schön ist, die Wahrheit zu wissen. Das ist auch die Erklärung für die vielen Nachahmer dieses Stils, man hat ja auch beim so Schreiben immer Recht und die Weisheit mit Löffeln gefressen.

 

Es ist ganz einfach. Es ist Suggestion. Alles ist immer so schlimm oder toll wie möglich. Dass diese Zustände ohne Vorwarnung ineinander umschlagen, entlarvt ihre Beliebigkeit, Hauptsache es ist extrem. Die Hyperbeln bringen Evidenzen mit sich, die nicht überprüfbar sind. In der Zusammenschau von Bernhards Lebensdaten und seinen autobiografischen Texten offenbaren sich schlicht Lügen. Das merkt man beim Lesen dieser Texte aber nicht, und das obwohl Bernhard sich selbst heillos verwirrt in seinen Ausführungen. Man merkt es nicht, weil gerade logisch kritische Übergänge mit einem derartigen rhetorischen Sperrfeuer begleitet werden, dass man froh ist, wenn man heil durch den Satz kommt. Thomas Bernhard gibt sich also ständig selbst Deckung und eine Faustregel für die Lektüre könnte sein: Bei allergrößtem Nachdruck im Text, wird bestimmt etwas kaschiert. Unlogik, Inkonsistenz, Umdichtung oder Blödsinnsphilosophie, manchmal auch alles zusammen. Es ist eine ständige Beglaubigungsarbeit, die einleuchtet, weil man sowieso nichts nachvollziehen kann. Es muss gut sein, denn Bernhard findet es gut, also ist es von höchstem künstlerischem oder geistigem Niveau. Man geht ihm ständig auf den Leim. Denn Behauptungen großartiger Leistungen, über die man nichts erfährt, sondern nur eine verdinglichte Erkenntnis z. B. als Stück oder Studie oder sonst was vorgeführt bekommt, von der man aber noch nicht einmal den Titel kennt, lassen einem keine Wahl, wenn man weiter lesen will, und das will man ja.

 

Andreas Maier zitiert ausführlich aus den Werken und vergleicht launig. Es ist sehr komisch, die isoliert dastehenden Passagen zu lesen als das, was sie sind – Unsinnigkeiten. Andreas Maier flickt Thomas Bernhard nicht am Zeug, er weist lediglich die Leser darauf hin, dass Bernhard die um ihn gemachte Mystik- und Tiefsinnsdebatte genauso haben wollte. Bernhard bleibt der heroische Einzelkämpfer für die Wahrheit wie wir.

 

Nora Sdun

 

Andreas Maier: Die Verführung. Thomas Bernhards Prosa, 300 Seiten, Wallstein Verlag 2004

 

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