29. Dezember 2004

Bizarrer Ruhm

 

Der argentinische Schriftsteller Manuel Puig soll vom Drehbuchschreiben einst mit dem Argument zur Literatur zurückgekehrt sein, dass ein Film niemals so viel erzählen könne wie ein Buch. Paulo Lins’ Roman „Die Stadt Gottes“, der als Vorlage für den gleichnamigen Kino-Erfolg (City of God) im vergangenen Jahr diente, könnte als Bestätigung für diese These gelten. “City of God” war kein schlechter Film, aber letztlich hinterließ er doch einen schalen Nachgeschmack. Zu deutlich merkte man ihm an, dass hier v.a. ein junger Massengeschmack bedient werden sollte: ansehnliche Körper, schnelle MTV-Kameraführung und eine Story, die ganz straight von Freundschaft & Liebe in einer Welt aus Gewalt erzählte.

 

Im Buch des 1958 geborenen Brasilianers Lins geht es weitaus komplexer und interessanter zu. „Die Stadt Gottes“ kennt im Unterschied zur Verfilmung keine individuellen Hauptakteure. Stattdessen steht ein kollektives Subjekt im Zentrum: die Favela und ihre Bewohner. Die Protagonisten, gleichermaßen Opfer wie Täter der Verhältnisse, stehen immer nur abschnittweise im Vordergrund. Sie kämpfen ums Überleben, machen sich als Kriminelle einen Namen, genießen ihren kurzen und bizarren Ruhm und sterben schließlich viel zu jung.

 

Somit ähnelt der Roman einer Barrio-Mythologie. So wie die Storys der gefallenen Vorgänger im Viertel von Generation zu Generation weitergegeben werden, wandert auch die Erzähl-Stafette in „Die Stadt Gottes“. Das Ganze funktioniert, weil Lins seinen Roman auf der Grundlage von Untersuchungen in den Favelas von Rio de Janeiro verfasst hat. Unzählige Gespräche und Interviews sind als Stimmen und Fragmente in das Buch eingegangen. Aus den Berichten über Alltag und Kriminalität, aber auch aus den Anekdoten von witzigen oder spektakulären Ereignissen hat Lins schließlich eine größere zusammenhängende Erzählung geformt. Das erinnert in der Methode an die Romane Nanni Balestrinis. Doch anders als der Italiener ist Lins in „Die Stadt Gottes“ dabei sehr nah am Straßensprech der Interviewten geblieben.

 

Fesselnd im Sinne eines Krimi ist der Roman nicht. Glücklicherweise. Gewalt und Verbrechen dienen der Spannungsliteratur immer in erster Linie als Effekte, um Interesse zu erzeugen. Bei Paulo Lins verfliegt jede fesselnde Wirkung des Schreckens sofort. Die Verhältnisse, von denen er spricht, sind ein Fluch, nie Entertainment.

 

Raul Zelik

 

Paulo Lins: Die Stadt Gottes, Roman, 494 Seiten, blumenbar-Verlag 2004

 

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