Text-Bild-Verfahren
Auf den ersten Blick ist die Erzählsituation dieses kleinen Buches so wenig mediengerecht wie die Unterhaltung zweier Männer in Louis Malles Film „Mein Essen mit André“ (1981): Während hier tatsächlich nichts anderes passiert, als dass ein Mann erzählt, der andere fast ausschließlich zuhört, gibt in „Cinéma“ ein Ich-Erzähler eine Art kommentierte Inhaltsangabe eines Films zum Besten. Und doch vermisst man an keiner Stelle eine Rückblende in Malles Film, und die Liebe zum Detail, die der Ich-Erzähler bei Viel gerade nicht vom Bild in den Text direkt umsetzen kann, taucht einfach in anderer Form im Text selber auf und nimmt so den Leser mit.
Dieser Ich-Erzähler hat es allerdings in sich. Er hat den Film in sich. Fast könnte man sagen, dass er der Film ist. Mit fortschreitender „Handlung“ lernt der Leser den Erzähler ein wenig kennen. Dieser hat den Film seines Lebens gefunden. Er schaut ihn sich immer wieder an. Wie oft schon? Man weiß es nicht. Aber der Cineast geht zum Schauen nicht ins Kino, sondern er sieht ihn sich immer nur zu Hause an, meist im Beisein von Freunden und Bekannten, deren Reaktion auf den Film entscheidend dafür ist, ob Bekannte Freunde werden oder sogar Freunde Feinde. Wer beim Sehen des Films lacht, hat es sich verscherzt. Wer den Film nicht mindestens „formidable“ findet, kann nicht mehr Freund sein. Der Film ist also die Matrix schlechthin. Und dieser Film existiert auch in Wirklichkeit. Es handelt sich um Joseph L. Mankiewiczs „Sleuth“ aus dem Jahr 1972 mit Michael Caine und Lawrence Olivier in den Hauptrollen.
Man muss den Film nicht gesehen haben, um das Buch „formidabel“ zu finden. Das mindeste, das man von ihm sagen kann, ist seine Eindringlichkeit, ja seine Obsession. Vermutlich wird man eher zu den Leuten gehören, die nicht in den Freundeskreis aufgenommen werden, aber das ist der Punkt: die Unmöglichkeit der Übertragung. Man kann immer nur staunen, was für andere wichtig ist. Und was das für Konsequenzen hat. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass man enttäuscht wird, wenn man jetzt „Sleuth“ anschaut. Irgendetwas wird fehlen, man wird die Drehmomente des Films wiedererkennen, die überraschenden Wechsel, aber man wird nicht für sich selbst realisieren, was das für den Ich-Erzähler bedeutet hat: diese Geschichte zwischen einem Aristokraten und einem Neureichen, der der Geliebte der Frau des Aristokraten ist, der vorgibt, mit dem Liebhaber einen Deal zu machen, bei dem beide nur gewinnen können, so der Aristokrat, der aber etwas ganz anderes mit seinem Gegenüber vorhat usw. Hin und wieder taucht in der Erzählung die Figur der doppelten Negation auf, mit der man die paradoxe Logik dieses Buchs beschreiben könnte: „Cinéma“ ist kein Film, sondern ein Buch; was in „Cinéma“ beschrieben wird, wird nicht im Kino gesehen: also ist „Cinéma“ wie Kino. „Sleuth“ dauert zwei Stunden 15, und so viel benötigt man zur Lektüre von „Cinéma“. „Kino“ kann man aber nicht abtun. Das weiß man, wenn man gute Filme wieder sieht. Man muss sie immer wieder sehen. Eigentlich. Und Viels Ich-Erzähler macht das tatsächlich. Das ist großartig, und es ist großartig erzählt, bisher leider nur im französischen Original zu goutieren.
„Cinéma“ ist der zweite Roman des 1973 in Brest geborenen französischen Autors.
Dieter Wenk (11.04)
Tanguy Viel, Cinéma, Paris 1999 (Les Editions de Minuit)