Ruhrpott-Indianer
Es gehört zu einer der schwersten Entscheidungen in der Kindheit, beim Fasching zwischen Cowboy und Indianer zu wählen. Als der kinderfreundliche Einsiedler aus Ralf Rothmanns neuem Roman „Junges Licht“ den 12-jährigen Icherzähler fragt, ob er Cowboy oder Indianer ist, steht die Sache für Julian fest. Er ist Tecumseh, und Indianer kennen bekanntlich keinen Schmerz.
Was der Junge Mitte der 60er im Ruhrpott ertragen muss, geht aber dann doch weit über die Schmerzgrenze. Der Lehrer schlägt mit dem Lineal, die Mutter mit dem Kochlöffel, bis dieser bricht. Glücklicherweise hat der skurrile Alte, der die Kinder der Siedlung um sich schart, Lebensweisheiten parat: „Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.“ Dieser Satz steht auch auf dem Rückcover des Buchs und bringt den kitschigen Rothmann auf den Punkt. Als Christologen hat man den Autor bezeichnet oder als metaphysischen Realisten. Das Realistische steht in seinem neuen Roman im Vordergrund, das Metaphysische verbirgt sich in erträglicher Lichtmetaphorik.
Prinz-Eisenherz- und Fix-und-Foxi-Hefte, Maggi-Sauce, Baumhaus, Spucken und Pissen zeichnen eine Kindheit im Ruhrgebiet, wie sie Rothmann schon wiederholt beschrieben hat. Diesmal nicht im Rückblick, sondern durchgängig aus Kindersicht.
Julian ist selbstverständlich nicht unter Tage. Die Arbeit des Bergarbeiter-Vaters erzählt Rothmann daher in „arbeitsgeschichtlichen“ Einschüben. Es ist verblüffend, wie es dem Autor gelingt, dabei nicht ins Romantisieren zu verfallen. Denn in der Oberwelt flimmert gleichzeitig der Fernseher „Bonanza“, Werner Höfer und Heinrich Böll in die Stube.
Da Ferien sind und Mutter und Tochter am Meer, der Vater auf Nachtschicht, ist Julian allein zu Haus und schaut interessiert Liebesfilme. Wie jeder gute Pubertätsroman behandelt auch „Junges Licht“ die erwachende Sexualität. Kindliche Naivität schützt Julian aber letztlich vor den Zudringlichkeiten des Hausbesitzers. Im Gegensatz zum Vater, dessen Affäre mit einer Minderjährigen die Familie zum Auszug aus der Wohnung zwingt.
Tragisch und düster würde „Junges Licht“ wirken, hätte Rothmann nicht einen Ausblick parat. War es in seinen vorherigen Romanen die Perspektive des erwachsenen Erzählers, der in seine eigene Kindheit zurückkehrt, mit dem Wissen, dieser entkommen zu sein. Hier ist es der indianerhafte Stoizismus Julians und das Licht jenseits der Schächte. Wenn er in sein ausgeräumtes Zimmer zurückblickt, fügt sich die Natur seinem unbegründeten Optimismus. „Ich piff lauter, kriegte sogar eine Art Triller hin, in mehreren Tonlagen, und langsam verzogen sich die Wolken vor dem Fenster. Ein wenig Licht brach durch, Staub tanzte in den Strahlen, und plötzlich waren die Vögel, all die Meisen, Gimpel und Pirole, wieder da. Hauchzart und grau, wie ein Wasserzeichen an der Wand.“ Welch schöner Roman hätte erst entstehen können, wenn Rothmann Cowboy geworden wäre? Der Leser zumindest hält besser die Pistole parat.
Gustav Mechlenburg
Ralf Rothmann: Junges Licht. Suhrkamp Verlag 2004, 237 Seiten, 19,80 €