7. September 2004

Von einem, der auszog

 

Der größte Teil dieses Buchs stellt eine Zweitverwertung von Gesprächen dar, die in der Mitte der 90er Jahre die Grundlage eines (gleichnamigen) Films über den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan bildeten. Es sind ausschließlich alte Hasen, die sich über ihren „Vater“ und Übervater äußern, Psychoanalytiker, die ihre Analyse bei Lacan machten (oder Lacan als Kontrollanalytiker wählten), die teilweise schon die ersten, in Lacans Wohnung in der Rue de Lille 5 veranstalteten Seminare in den Jahren 1950-53 besuchten und mehr oder weniger alle Auseinandersetzungen Lacans und seiner Organisationen mit der orthodoxen „International psychoanalytical association“ (IPA), 1910 von Freud und Ferenczi gegründet, miterlebten.

 

Die Gespräche, die Alain Didier-Weill mit den Interviewten – u.a. Serge Leclair, Wladimir Granoff, Moustapha Safouan, Maud Mannoni, René Major – führt, wollen keine Einführung in die Lacan’sche Psychoanalyse sein. Der Leser erhält eher die Möglichkeit, dreizehnmal das vor allem auch institutionelle Abenteuer um den umstrittenen Chefcharismatiker von der Mitte der 50er Jahre bis zum Anfang der 80er Jahre aus der jeweiligen Perspektive des Interviewten mitzuverfolgen. 1953 hatte Lacan das erste Mal Ärger mit der IPA, 1964 gründete der Exkommunizierte seine eigene Schule, die École freudienne de Paris, die er 1980, kurz vor seinem Tod 1981, auflöste, was seine Schüler und Adepten in große Verwirrung stürzte. Einig sind sich die Zeugen in der Bewertung ihrer jeweiligen ersten Begegnung mit Lacan, die für alle ein Erlebnis war. Immerhin war Lacan schon über 50, als er anfing, auratische Strahlen auszusenden. Das Alter konnte nicht verhindern, dass Lacan frischen Wind in die verstaubten Behandlungszimmer brachte. Von ihm stammt der häretische Satz: Der Analytiker autorisiert sich nur durch sich selbst. Das war ein Angriff auf die althergebrachte Institution, die entschied, wer sich Analytiker nennen durfte und wer nicht. Im Mittelpunkt der Gespräche steht deshalb auch die sich konsequent aus Lacans häretischem Satz ableitende Einrichtung der so genannten „passe“, die Lacan 1967 ins Leben rief und eine sehr eigenwillige, höchst umstrittene Art und Weise darstellt, wie man Analytiker nach Lacans Gnaden wird. Der Analysand (der „passant“) ergreift selbst die Initiative, präsentiert sich (vor) einer Gruppe von „passeurs“, denen er von seinen psychoanalytischen Erfahrungen und Vorstellungen berichtet, und die passeurs wiederum erscheinen vor einer „Jury d’agrément“, die ihr Ohr denen leiht, die zuvor dem armen passant zuhörten. Der passant hat also keinen direkten Zugang zur Jury, sondern ist auf Gedeih und Verderb den passeurs ausgeliefert.

 

Im übrigen sind das natürlich psychoanalytische Finessen, von denen der Normalsterbliche auch in seinen kühnsten Träumen nicht belästigt wird. Am Ende seines Lebens hat Lacan seiner eigenen Erfindung der passe einen ziemlich negativen Stempel aufgedrückt, indem er sagte, dass sie ein „échec“, ein Misserfolg war. Vielleicht nicht unbedingt einen Misserfolg, auf jeden Fall aber eine Wende in der Lacan’schen Selbstpräsentation während seiner „Seminare“ stellte die Hinwendung des Meisters zu den „Borromäischen Ringen“ dar, zu Anfang der 70er Jahre, die eine Verknappung der Rede, des Sprechens, und eine Dominanz der Zeigens („monstration“) nach sich zog, was für den einen oder anderen Zuhörer eine Erschwerung in Sachen Übertragung bedeuten mochte. Was die Borromäischen Ringe selbst für Lacan bedeuteten, das, so der eine oder andere Zeuge dieser Gespräche, fragen sich noch heute die Mathematiker und Topologen, die sich mit Lacan jahrelang damit herumplagen mussten. Die magische Zahl drei, RSI, das war Lacans erster und das blieb sein letzter Schnaps.

 

Quartier Lacan – lesbare Texte, anregende Gespräche, manchmal auch aufregende Details, insgesamt aber wohl doch eher ein Band für Leser, die sich für die Hintergründe und das Institutionelle der Sache interessieren.

 

Dieter Wenk (09.04)

 

Quartier Lacan. Témoignages sur Jacques Lacan. Propos recueillis par Alain Didier-Weill, Emil Weiss et Florence Gravas, Paris 2001 (Denoël)