31. August 2004

"Hin zum Blocken"

 

Unterrichtsstunden in Schulen sind kritische Systeme. Der Soziologe Daniel A. McFarland warnt in seiner kürzlich erschienenen Studie „Resistance as a Social Drama“ Lehrer davor, auf Witze, die Schüler über sie machen, mit Gegenwitzen zu reagieren. Denn diese seien nicht nur in der Regel schlechter, sondern sie individualisierten den Pädagogen auch unvorteilhaft.

Joachim Linde, Deutschlehrer am Schiller-Gymnasium in Reichenheim, aus Jokob Arjounis neuem Roman „Hausaufgaben“ ist selbstgewiss genug, dass er glaubt, in guter alter 68-er-Manier seiner Klasse auf Augenhöhe entgegentreten zu können. Ist er nach eigenen Angaben zwar „kein Robert Redford“ mehr, mit rotweißen Ringelsocken und „bunten amerikanischen Turnschuhen“ denkt er doch immer noch, als Mitte 30 durchgehen zu können. Und intellektuell hat er auch eine Menge drauf. „Linde bildete sich auf außergewöhnliche Formulierungen, Wortschöpfungen sowie Umdeutungen bekannter Wörter etwas ein. Je länger seine Zuhörer brauchten, um dahinterzukommen, was er eigentlich meinte, desto zufriedener war er.“ Bei so einem Pauker wird das Stören im Unterricht zum lebensnotwendigen Akt.

Anlass des Eklats ist (was könnte näher liegen?) ein Walser-Text, der in der letzten Stunde vorm Wochenende gelesen wird. Bei einer hitzigen Diskussion über den Einfluss des Dritten Reichs auf das heutige Deutschland fallen harte Worte – zu harte in den Ohren des Möchtegern-Linksliberalen Linde. Auf die politisch inkorrekten, aber facettenreichen Argumente seiner Schüler antwortet er nur mit Begriffen wie "Sippenhaft" und "Nazitopf" und stellt zu guter Letzt die geistreiche Hausaufgabe: „Wie kommt Deutschland aus der Naziecke?“

Darin liegt der Skandal aber selbstverständlich nicht, sondern in der Äußerung eines Schülers, der den Großeltern einer Mitschülerin die Gaskammer gewünscht hat. Der Direktor, ein alter Kumpane von Linde aus Startbahn-West-Demonstrations-Zeiten, soll die Sache wieder gerade rücken. Über die richtigen Sprüche dazu verfügt er jedenfalls: „Schluss mit Hocken, auf die Socken, hin zum Blocken.“ Doch auch er wird sich später gegen Linde richten.

Dass Joachim Linde keinem Kayankaya-Roman entsprungen ist, merkt man sofort. Völlig uncool und mit vollkommen ungebrochener Selbsteinschätzung nervt die Hauptfigur über weite Strecken abgeklärt, aufgeklärt, vermeintlich ironisch und über die Maßen selbstgefällig herum. Einem, der so unsympathisch daherkommt, gönnt man das Schlimmste und es tritt ein. Sein 14 Jahre gehegter Wunsch, eine dreitägige Wanderung durch die Mark Brandenburg, „die Wiege Berlins, die Heimat Fontanes“, zu unternehmen, geht erneut nicht in Erfüllung. Seine Familie ist zerrüttet und dann wird ihm auch noch sexuelle Nötigung vorgeworfen.

Man muss den Roman vom Schluss her lesen. Denn nur im Lichte des grandiosen rhetorischen Lehrstücks am Ende des Buchs werden die gängigen Klischees und der eindimensionale Charakter des Protagonisten erträglich. In einer ergreifenden Rede vor dem Lehrerkollegium, in der sich Linde aller Vorwürfe gegen ihn entledigt und den moralischen Spieß umdreht, überläuft nicht nur Linde, sondern auch dem Leser filmreif die Gänsehaut.

 

Gustav Mechlenburg

 

Jakob Arjouni: Hausaufgaben, Diogenes Verlag, 190 Seiten. 17,90 €

 

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