16. August 2004

Zur Einführung von Objekt a

 

Das im Mai dieses Jahres in Frankreich erschienene „Seminar Buch 10“ über „Die Angst“ aus den Jahren 1962/63 markiert einen entscheidenden Schritt in Sachen Lacanismus: Auf der einen Seite verschwinden die freudianischen Referenzen – und wenn es sie denn gibt, dann nicht in dem alten Sinne des Kampfrufs: „Zurück zu Freud“, sondern als Lacans „Verbesserung“ von Freud –, auf der anderen Seite betritt ein „Objekt“ die Bühne (das allerdings seit etwa dem Seminar über die „Übertragung“ aus den Jahren 1960/61 hinter den Kulissen anfing zu rumoren), das als Objekt a (oder auch Objekt klein a genannt) im Laufe der Zeit Karriere gemacht hat und als Versuch verstanden werden kann, das widerspenstige Reale in seinem problematischen Bezug zum Symbolischen zu thematisieren.

 

Dieses Seminar ist also kein Kommentar etwa zu Freuds „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926), bietet auch keine Genealogie des Angstbegriffs; alle möglichen und erwartbaren Bezugnahmen werden gleich in der ersten Seminarstunde – und man muss sagen, auf ziemlich amüsante, auf jeden Fall sehr unterhaltsame Weise – geschenkt. Eine Art Purgatorium, die Reinigung der Seele vor dem Eintritt in die Lacan’sche Welt. Lacans Methode ist einfach, einfach deshalb, weil sie axiomatisch-aphoristisch ist. Die beiden hier vorgestellten Angst-Axiome lassen sich leicht auswendig lernen: „Angst ist, was nicht täuscht.“ „Angst ist nicht ohne Objekt.“ Der erste Satz zieht die Konsequenz daraus, dass die symbolische Ordnung zwar ein riesiges Auffanglager für werdende Subjekte ist, die sich in ihr, mittels ihrer konstituieren müssen, diese Ordnung aber nicht dafür gemacht ist, feststehende Identitäten zu vergeben oder letzte Worte zu sprechen. Der große Andere steht ohne beglaubigende Garantie da, die er nur zum Schein vergeben kann. Auf ein niedrigeres Niveau heruntergefahren heißt das einfach, dass man mit Worten lügen und täuschen kann. Angst dagegen ist kein Signifikant, sondern ein Signal (so viel Freud muss dann doch sein), das nicht täuscht. Worüber täuscht Angst nicht? Darüber gibt der zweite Aphorismus Auskunft.

 

Bekannt ist die philosophische Unterscheidung zwischen Furcht und Angst. Furcht ist mit, Angst ohne Gegenstand. So sagt es noch Martin Heidegger. Das Dasein ängstigt sich vor seinem eigenen In-der-Welt-sein-können, und das ist etwas anderes als der böse Mann von nebenan. Wenn Lacan behauptet, dass Angst nicht ohne ist, nicht ohne Objekt, dann meint er damit keinen innerweltlichen Gegenstand, der etwa dem Phobiker das Leben schwer macht. Er meint damit vielmehr, dass Angst einen Verdeckungsmechanismus angreift, der die Selbstähnlichkeit des menschlichen Kosmos garantiert, auch wenn dieser vor allem auf Verkennung basiert, und dass das, was da ans Licht gezogen wird, ein Teil von mir selbst ist, etwas „Abgetrenntes“, ein Rest, etwas, das nicht assimiliert werden konnte (und nie wird werden können) und das mir als zugleich absolut Fremdes entgegensteht: Objekt a. Objekt a indiziert Angst. Das eigentlich Spannende an diesem Seminar ist zu sehen, wie Lacan Angst als das, was nicht täuscht, mit der Struktur des Begehrens korreliert. Ein anderer Aphorismus Lacans, den er sich von Alexandre Kojève ausgeliehen hat, lautet: „Das Begehren des Menschen ist das Begehren des Anderen.“ Das Begehren verortet Lacan also wie die Sprache in A, dem großen Anderen. Für das Begehren gilt also ebenfalls, dass es nicht zur Ruhe kommen kann, dass es sich immer wieder sagen muss: „dass es das nicht war“. Schopenhauer wird in diesem Zusammenhang zwar nicht genannt, aber die Struktur ist doch sehr ähnlich. Es nimmt von daher nicht Wunder, dass Lacan auf den Buddhismus zu sprechen kommt, der als einer der ersten ausplauderte, dass „das Begehren illusorisch ist“.

 

Die ganze Apollinik hat aber nicht das letzte Wort. Denn zentral ist nicht die Täuschung über das Begehren, sondern dass wir uns über die Täuschung des Begehrens täuschen. Normalerweise, so Lacan, verdeckt das Begehren, dass das, was begehrt wird, ebenfalls ein Begehrendes ist (hierzu erzählt Lacan eine lustige Geschichte von der Begegnung mit einer fantasierten Riesen-Gottesanbeterin, die an die Taubenepisode in „Mars-Attacks“ vorerinnert), das heißt, wir wissen nicht, was der andere „eigentlich“ von uns will (das weiß der andere meist auch nicht). In diesem Moment, in dem der unterlegte Ähnlichkeitsbezug zum anderen zusammenbricht oder droht, zusammenzubrechen, entsteht Angst, weil plötzlich im anderen etwas erscheint, von dem ich nicht weiß, was es ist, was es von mir will, was unheimlich ist und das letztlich seine affektive Kraft als Angstsignal von da bezieht, dass dieses Etwas, eben dieses Objekt a, einmal ein Teil von mir selbst war, dass irgendwann abgetreten wurde und jetzt, wie auch immer verwandelt, wiederkehrt. Objekt a wird in diesem Seminar abschließend in fünf Stufen vorgeführt (die Brust, die Exkremente, der Phallus, der Blick, die Stimme), Paradebeispiel, dem Lacan’schen Bilderzentrismus geschuldet, ist natürlich der Blick, der als böser Blick noch jeder Liebe auf den ersten Blick einen Strich durch die imaginäre Rechnung macht. Solange sich das Subjekt in seinem Begehren täuschen kann, läuft alles wunderbar. Von Objekt a angeheizt, begehrt das Subjekt in dem Verlangen, in dem anderen das zu finden, was ihm selbst fehlt, denn ohne Mangel kein Begehren (das sahen Deleuze/Guattari später anders).

 

Angst taucht auf, wenn das Begehren im Spiegel verschwindet, der andere also einen Schuh draus macht, genauer gesagt einen Handschuh, der einem von der anderen Seite zugeworfen wird und den man nun mit der anderen Hand anziehen soll und man merkt, dass es/er nicht passt. Angst und Begehren sind also reziproke Erscheinungen, die beide an Objekt a aufgehängt sind und Auskunft darüber geben, wie es mit der „Sache“ (la Chose) steht. Und die Sache steht schlecht. Entweder laufen wir als Angsthasen durch die Welt oder wir sehen wie der Vogel Strauß nicht, dass wir nicht sehen.

Nicht zu unterschätzen ist dabei aber die Lacan’sche Sauce, mit der man diese Kalamität mal findig, mal windig, garnieren kann.

 

Dieter Wenk (08.04)

 

Jacques Lacan, Le séminaire livre X, L’angoisse (1962-1963), Paris 2004 (Seuil)