20. Juni 2004

Ein perfekte Verkörperung

 

Heute, nach Lektüre dieser sehr knappen Vita (keine 20 Seiten), die keine Autobiografie im modernen Sinn ist, würde man wohl sagen, dass sich da jemand sehr weit aus dem Fenster lehnte. Da es sich bei diesem Fenster jedoch um „Albertis Fenster“ handelt, sollte man dieses Urteil zunächst einklammern, auch wenn in diesem, in der dritten Person geschriebenen, Bericht nichts direkt darauf hindeutet, dass es sich bei dem Porträtierten um einen jener Renaissancemenschen handelt, die dafür verantwortlich waren, dass sich die Zentralperspektive als gestalterisches Modell durchgesetzt hat.

 

Diese „Vita“, die gleichwohl titellos und anonym überliefert ist (an der Autorschaft gibt es indes keinen Zweifel), ist eine bizarre Mischung aus Distanzierung – an keiner Stelle wird "Ich" gesagt – und Apotheose. Was hier von einem einzelnen Subjekt ausgesagt wird, passt vielleicht in einen Text, aber letztlich auf keine Kuhhaut, es muss mindestens ein Halbgott sein, von dem hier die Rede ist. Aber genau daran liest sich der Zeitindex ab, der die Schrift situiert. Es ist die Zeit der leidenschaftlichen Rückschau auf die Antike, die die entscheidenden Erfahrungs- und Verhaltensmuster bereitstellt, und es ist die Zeit einer obsessiven Perfektibilität, die von ihren Führungsgestalten erwartet, dass sie sich permanent im Grenzgebiet der Selbstüberbietung aufhalten. Die „Vita“ ist also die Geschichte eines Musterknaben. Eines Strebers aus Naturzwang (der natürlich auch gesellschaftlich vermittelt ist). Eines Brüskierers. Eines frühen Robin Hood. Eines christlichen Dulders in gefährlicher Nähe zum Märtyrer oder – modern gesprochen – zum Masochisten, der auch und gerade da die Backe hinhält, wo Aussicht besteht, einen zweiten Schlag zu empfangen (hier zieht allerdings auch die sokratische Tradition der Bevorzugung von Unrecht erleiden vor Unrecht tun).

 

Die „Geschichte“ beginnt in medias res: das heißt, in der Adoleszenz (der Autor ist zur Zeit der Abfassung ca. 33 Jahre alt), es werden keine Namen genannt (Leon Battista Alberti war wie sein älterer Bruder ein uneheliches Kind) und es geht sofort los mit den Programmen, die der Beschriebene als freier, unabhängiger Mensch in Angriff nimmt, und diese Programme sind in dieser Zeit des frühen 16. Jahrhunderts schlichtweg: alles. Schenkt man diesem Text Glauben, muss Alberti ein Allroundgenie gewesen sein, die spätestens von Schiller in den „Ästhetischen Briefen“ beklagte Funktionalisierung des Menschen war noch in weiter Ferne. Und Alberti macht nicht nur alles, er ist in allem auch der Beste. Ein Beispiel: „Als Jugendlicher zeichnete er sich bei den Waffenübungen aus: Mit einem Satz sprang er mit geschlossenen Füßen über die Schultern stehender Männer; beim Sprung mit der Lanze kam ihm niemand gleich; ein aus seiner Hand geschleuderter Pfeil durchstach das eiserne Bruststück eines Harnischs, wie stark dieses auch sein mochte.“

 

Keine Frage, dass die Ich-Perspektive den Zorn des Lesers herausgefordert hätte, der den Star mit Beendigung der Lektüre bestraft hätte. Die konsequent eingehaltene Außenperspektive macht die Lektüre erträglich und zugleich merkwürdig modern. Denn, obwohl der Text durch die Anonymität seine persönliche Marke nicht verrät, die sich gleichwohl erschließen lässt, so will er dem heutigen Leser als nichts anderes erscheinen als eine emphatische Werbeschrift. Hier betreibt jemand Reklame in eigener Sache. Bis hin zu den soft skills, die am Ende der Schrift, die abrupt abbricht, als Anekdotensammlung eines vollkommenen Menschen dargereicht werden. Ein Beispiel: „Einem, der allzu unverschämt war und dem er Silberstücke versprochen hatte, zählte er, als dieser Goldmünzen forderte, elf Silbermünzen ab und sagte: Wenn ich jetzt noch eine dazutue, werde ich Dir ein Goldstück gegeben haben, obwohl ich Dir nur Silberstücke versprochen habe [zwölf Silbermünzen ergaben ein Goldstück].“

 

Wer also wissen will, wie der perfekte Mensch der Renaissance aussah, der muss zu diesem Text greifen, der vorzüglich von Christine Tauber eingeleitet ist und den der humanistisch gebildete Leser auch gleich noch im Original lesen kann. Es ist kein Zweifel, dass der ikonische Schematismus der Zentralperspektive ein Produkt der Renaissance war. Leon Battista Alberti war eines ihrer zentralen Aushängeschilder.

 

Dieter Wenk

 

Leon Battista Alberti, Vita. Lateinisch-deutsch, herausgegeben und eingeleitet von Christine Tauber, übersetzt und kommentiert von Christine Tauber und Robert Cramer, Frankfurt am Main/Basel 2004 (Stroemfeld/Roter Stern)

 

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