Die Wahrheit im Labor
Der Titel dieser von den Herausgebern ausgewählten Aufsatzsammlung ist verwirrend. Er ist dem Autor jedoch nicht aufgezwungen, heißt eine Buchveröffentlichung des Autors doch „Essays on the Anthropology of Reason“. Es geht in „Anthropologie der Vernunft“ jedoch weder um Vernunft im klassischen philosophischen Sinn noch um Anthropologie, die sich um das Wesen des Menschen bemüht. Das wäre ein unverzeihlicher Rückfall hinter Foucault, als dessen Kenner Rabinow in Deutschland vor allem bekannt geworden ist. Den Leser erwarten keine begrifflich gesättigten Studien, sondern Beobachtungen, die sich das Prozessuale in der Konstituierung von Wissen zum Thema nehmen und – darin weiter gehend als Foucault – auch noch die Gegenwart in die genealogischen Transformationen mit einzubeziehen versuchen.
Rabinow stellt also keine kantischen Fragen nach den Grenzen der Vernunft, sondern kümmert sich um deren jeweilige Ausprägung, was einschließt, dass Vernunft sich bei ihren verschiedenen Partnerschaften durchaus um ihre eigene Vernünftigkeit bringen kann. Das ist das, was Rabinow den faustischen Pakt des gegenwärtigen Wissenschaftsbetriebs nennt. Was passiert, wenn die Freiheit der Forschung aufgrund von Finanzierungskalamitäten aufgegeben werden muss und ein Engagement von Wissenschaftlern mit der Industrie immer normaler wird. Was bedeutet es für die Lebensführung von Wissenschaftlern, wenn diese nicht mehr nur die Akademie ihre intellektuelle Heimat nennen, sondern zunehmend auch zum Beispiel Pharmakonzerne. Rabinows Fragestellung ist also eine ethnografische: Im Zusammenhang des Humangenomprojekts fragt er: „Wie werden sich unsere sozialen und ethischen Praktiken im Zuge des Projekts verändern?“ Das ein bisschen Desaströse an diesem Buch ist, dass es interessante Fragen aufwirft oder wiederholt (die Texte sind teilweise 10 Jahre alt), aber nicht richtig vorankommt, weder mit Perspektiven noch mit Kritik.
Das ist jedoch kein Zufall, denn eine Genealogie der Gegenwart (mit ein wenig Zukunft) zu schreiben, kann nur überfordern. Rabinow versucht zu beschreiben (den Untersuchungsgegenstand Ernst nehmen) und zugleich eine eigenständige „Form“ zu präsentieren, die gewissermaßen den Stand der Dinge auf eine größere Vernünftigkeit hin antizipiert. Rabinow möchte untersuchen, „wie sich das Neue als Moment einer Form in Bewegung ereignen kann“, muss aber darauf bedacht sein, dass dieses „Neue“ nicht ganz aus dem Ruder des Ethischen herausfällt. Die eher philosophischen Essays der Sammlung enttäuschen, man fühlt sich an einen gewissen Sound erinnert (Foucault, Deleuze), aber man ertrinkt darin. Vielleicht haben das die Herausgeber und Übersetzer auch gemerkt und durchsetzten die Essays mit ein paar von ihnen mit dem Autor geführten Interviews. Hier hätte man sich regelmäßig die Rückfrage gewünscht: ,Herr Rabinow, könnten Sie das bitte etwas genauer sagen?’ Oft heißt es jedoch nur: ,Was war der Anlass, diesen Text zu schreiben?’
Unerlässlich ist allerdings die Einleitung der Herausgeber, ganz unintendiert das Herzstück des Buchs. Sie gibt einen konzisen Überblick über das Untersuchungsfeld Rabinows von im engeren Sinn anthropologischen Studien wie French Modern bis hin zu solchen, die sich den Kreuzungspunkt von Bioethik, Neurowissenschaften, Genetik und etwa nationalem Interesse zum Gegenstand nehmen. Rabinows in „Anthropologie der Vernunft“ versammelten Texte interessieren in dem Maße, wie sie konkret werden, zum Beispiel über die genetische Kartierung der isländischen Bevölkerung berichten oder anhand von Gerichtsfällen moderne Fragen des Eigentums ins Bewusstsein rücken. Hier macht Rabinow einsichtig, dass Entscheidungen nicht unbedingt Effekte von Vernunft sind, sondern diese mit steigender Tendenz in die Fänge kapitalistischer Machtverhältnisse gerät. Hier auch erweist sich Rabinow nicht nur als Erbe Foucaults, sondern auch als Knappe Max Webers. Kann denn Wissenschaft Sünde sein?
Dieter Wenk
Paul Rabinow, Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung, herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees, Frankfurt/Main 2004 (Suhrkamp)