3. April 2004

Geist als Avantgarde

 

Kaum drei Jahre nach Marinettis erstem, 1909 im Pariser „Figaro“ erschienenen futuristischen Manifest veröffentlichte Kandinsky seine erste, auf das Jahr 1912 vordatierte konstruktivistische Programmschrift. Sie ist sehr viel länger als ein Zeitungsartikel, sie lässt sich viel Zeit, und sie kommt sehr leise daher. Als ob dieser gedämpfte Ton bereits ein Zeichen des zu Ende gehenden oder schon gegangenen materialistischen Zeitalters sei. Und doch muss man sagen, dass Marinettis Schrift die modernere und auch wahrere war und ist. Als ob nun hier ein geschichtliches Ereignis, der Erste Weltkrieg, auf eine künstlerische Vision geantwortet hätte. Den Geist hatte der Italiener kurzerhand in die Maschine versetzt, wo er in und mit ihr explodierte.

 

Dagegen liest sich Kandinskys Programm über weite Strecken merkwürdig retrograd. Das hat sicherlich mit der immer noch religiösen Überschreibung des Künstlers zu tun. So sind die Mittel des Künstlers entweder heilig (wenn sie dem „inneren Prinzip“ folgen) oder sie sind sündhaft (wenn der Künstler sich zum Beispiel an seine Epoche verkauft). Das innere Prinzip ist gewissermaßen der Ausweis des Künstlers, den auch er selbst nicht lesen kann, dem er aber zu folgen vermag.

 

Es ist die alte göttliche Inspiration, die hier noch wirkt, und so ist es kein Wunder, wenn Kandinsky seine Schrift mit dem altbekannten Modell des an der Spitze der Gesellschaft stehenden Künstlers beginnt. Nur der Künstler ist eigen, nur er ist überhaupt fähig, korrumpiert werden zu können, denn diejenigen, die unterhalb der Spitze des Dreiecks, das die Gesellschaft bildet, stehen, sind immer schon angewiesen auf Nahrung von oben oder (was noch schlimmer ist) unten.

 

Es lohnt sich trotzdem oder gerade deswegen, weiterzulesen, denn im Weiteren ist zwar viel von Form und Farbe als den beiden Konstituentien der Kunst die Rede, aber kaum noch vom Geistigen oder von was auch immer, was den Künstler berechtigen würde, eine Sonderstellung innerhalb der Gesellschaft einzunehmen. Spätestens bei seinen Ausführungen zu Form und Farbe merkt man (wieder), wie kommentierungsbedürftig neuere Kunst ist. Wenn wir uns heute abstrakte Kunst anschauen, denken wir eher an Werbung und Ästhetik als an die Implikationen einer im Entstehen begriffenen Kunst, deren eingeforderter Purismus hinsichtlich der Gegenständlichkeit von Kunst und ihrer naturalistischen Verständlichkeit sich als ersten Schritt hin in Richtung Vergeistigung verstand, was auch immer Kandinsky und seine Mannen damit meinen mochten.

 

Gleichwohl gibt es in dieser Schrift Stellen, die uns daran erinnern, eine wie breite Formation die anti-gegenständliche Position bildete. Überall kam es zur Ausbildung neuer „Aufschreibesysteme“, wozu eben auch Malerei und Musik gehörten: Das Zauberwort der Zeit hieß Material. „Bewusst oder unbewusst wenden sich allmählich die Künstler hauptsächlich zu ihrem Material, prüfen dasselbe, legen auf die geistige Waage den inneren Wert der Elemente, aus welchen zu schaffen ihre Kunst geeignet ist.“

 

Man frage nicht, was es mit dieser geistigen Waage auf sich habe (die bei Artaud zur „Nervenwaage“ wird), der Nicht-Künstler ist hier nicht gefragt, weil er nicht verstehen würde, allein der Künstler weiß. Hier kann man nur mit Peter Bürger das Historisch-Gewordene der Avantgarden ablesen und die große Distanz zu ihnen spüren bei Formulierungen wie dem Programmfinale, wo es heißt, „dass dieser Geist in der Malerei im organischen direkten Zusammenhang mit dem schon begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches steht, da dieser Geist die Seele ist der Epoche des großen Geistigen.“ Eine solche Grandezza trauen sich heute auch nicht mehr die kokettesten unter den Erneuerungswilligen zu. Die Zeit der großen und kleinen Wiederholungen hat diese Zukunft bis auf weiteres abgeschnitten.

 

Dieter Wenk

 

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, Bern-Bümplitz 1959 (Benteli-Verlag)