1. April 2004

Erinnerung an die Zukunft

 

Der kybernetische Imperativ ist zwar nicht ganz so bekannt wie der kategorische, aber er ist mindestens genauso unausführbar: „Handle immer so, dass dein Handeln programmiert werden kann.“ Für Gotthard Günther in seinem genialischen geschichtsmetaphysischen Buch über die Kybernetik als eine eine neue Epoche der Menschheit markierende Wissenschaft geht die Aufforderung entsprechend an den (biotechnischen) Forscher, „ein kybernetisches Ebenbild seiner selbst“ aus sich herauszusetzen.

Wie das letzte Zitat klar macht, geht es hier nicht um die Erzeugung von Homunculi oder Frankensteinen, die ja durchaus aus Fleisch und Blut sind. Günther hält sich strikt an alte Deszendenzvorstellungen: Gott – Mensch – technischer Apparat. Es geht um Ebenbilder, also Analogien. Der epochale Auftritt der Kybernetik ist also nicht so zu verstehen, dass der Mensch, wie es in einer anderen geschichtsphilosophischen Abhandlung hieß, an sein Ende gekommen sei. Im Gegenteil, er, der Mensch, soll maschinell Gesellschaft bekommen.

Das Großartige an diesem Buch ist, dass es den technischen Auftritt einer Wissenschaft, der Kybernetik, sich nicht einfach so entwickeln lässt, sondern diese Geburt anbindet an die damalig aktuelle weltpolitische Situation der Aufteilung in Ost und West. Mit Genugtuung stellt Günther fest, dass auch in der UdSSR kräftig kybernetisch geforscht wird, was sich direkt aus der Staatsdoktrin des dialektischen Materialismus ergibt. Denn wenn auch schon die Materie „denkt“, dann gibt es nichts Wichtigeres, als diesen Vorgang genauer zu untersuchen.

Im Westen dagegen, so Günther, geht man von der anderen Seite an das Problem heran, gewissermaßen von der sciencefictionmäßigen: Hier muss man einer generell tumben Materie erst den bewusstseinshaltigen Reflexionsprozess einhauchen, bevor vorschnell die humanistische Hoheit aufs Spiel gesetzt wird. Günther ist vermutlich der philosophischste aller Kybernetiker, denn unter Hegel, mit dem er diese andere Seite identifiziert, macht er es nicht. Und so soll mit Hegel, gegen Hegel, der Idealismus und der Materialismus so zusammengebracht werden, dass sich hier – politisch und technisch – ein dritter Weg auftue, der durchaus, so darf vermutet werden, mit Jürgen Habermas’ universaler Kommunikationsgemeinde zutun hat.

Was hier also kybernetisch generiert werden soll, ist ein transzendentales Drittes, was weder mit dem jeweiligen menschlichen Subjekt und dessen unübertragbaren „Introszendenzen“ (also seiner Innerlichkeit) noch mit dem irreflexiven „Ding“ zu verrechnen ist. Dieses Dritte nennt Günther den „Reflexionsprozess“. Damit meint er zum Beispiel die Struktur sich selbst organisierender Systeme, was ja im Grunde eine mögliche Definition der Kybernetik selbst ist. Zu einer der vielen menschlichen Demutserkenntnissen gehört, „dass keine Selbstreflexion je die fremdseelische als die eigene übernehmen kann.“ Wenn sich überhaupt etwas übernehmen lässt, dann muss es objektivierbar, also wiederholbar sein. Und was sich objektivieren lässt, nennt Günther Information. Diese aber ist weder auf den menschlichen, also selbstbewusstseinsfähigen Modus der Reflexion, noch auf den Rechenprozesse durchführenden Apparat beschränkt, sondern genau der allerdings identitätslogisch schwierige Schnittpunkt, von dem aus solche Formulierungen wie „das Bewusstsein der Maschinen“ erst verständlich werden.

Günther bestreitet, dass es jemals möglich sein wird, ein menschliches Gehirn zu „konstruieren“, aber von dem Augenblick an, wo man auch Gerätschaften („Komputern“) zugesteht, dass sie, wie bei Rückkoppelungen, auf sich selbst zurückkommen können, ist prinzipiell nicht vorauszusagen, bis zu welcher Grenze die Komplexität solcher Schleifen getrieben werden kann. Wer weiß, wo Günther heute stünde, aber man kann ihn sich nicht wirklich in einer Ethik-Kommission vorstellen. Eher hätte er wohl Vernor Vinge in seinem Vortrag über „Die kommende Singularität in der menschlichen Evolution“ applaudiert, wenn er ihn nicht selbst geschrieben hätte. Dann wäre doch das selbst produzierte Ende des Menschen da, aber schließlich leben wir ja auch schon längst wieder in einer anderen Epoche.

Dank an den Verlag für diese dritte Auflage.

 

Dieter Wenk

 

Gotthard Günther, Das Bewusstsein der Maschinen, Baden-Baden und Krefeld 2002 (Agis)