1. April 2004

Tibet in Slowenien

 

Es gab eine Zeit, in der der Freud-Schüler Jacques Lacan eine phantastische Psychoanalyse entwickelte und eine begeisterte und betörte Klientel sich besorgt fragte, wie man denn diese ganzen wunderbaren Begriffe irgendwie wieder erden könne. Da tauchte der Lacan-Jünger Slavoj Zizek auf und führte frech vor, wie man das macht. Das heißt, eigentlich zeigte er nicht, wie man es macht, er machte es einfach. Seine Methode? Kurzschluss. Sein bewährtestes Stilmittel, das ihm zugleich als wichtigstes Beweismittel dient? Die rhetorische Frage.

Zizek ist es in gut zehn Jahren gelungen, aus logisch-philosophischen Argumenten einen pawlowschen Effekt zu extrahieren, der sich durch Selbst-Bekanntschaft immer weiter fortsetzt und den kein Zizek-Leser je wieder wird hinter sich lassen können. Zizek hat uns systematisch antrainiert, „ja, genau so ist es“ zu antworten, wo doch die Frage schon, und zwar gleich beim ersten Mal, wo sie als rhetorische auftauchte, eine Gegenfrage hätte hervortreiben müssen. Aber niemand weiß besser Bescheid über die Gnade des „ersten Mal“ als eben der Rhetoriker. Außerdem haben die Leser ja erstmal Zutrauen. Wollen was wissen. Ahnen nichts von der Systematik des Rhetorischen, von der Zirkularität des sich gegenseitig Erhellens, von der generellen Deckung, hinter der sich nichts verbirgt, außer dem prophetischen Drang, ein Begriffsnetz unters „Volk“ zu bringen. Wer Zizek einmal erlebt hat, hat keine Angst mehr zu behaupten, dass seine Methode paranoisch ist. Die rhetorische Frage ist der Schlüssel zu seiner Paranoia. Und er braucht wirklich kein Gegenüber, denn er wartet nicht auf Antworten, sondern auf Kopfnicken.

Wenn er fragt: „Ist dies nicht ein perfektes Beispiel für die im eigentlichen Sinne paranoide Verdoppelung?“, so kann es nur heißen: Ja, freilich ist dies ein perfektes Beispiel für die im eigentlichen Sinne paranoide Verdoppelung. Zwar wissen wir, dass wir umso schneller mit dem Kopf zu nicken geneigt sind, je weniger wir zum Beispiel von der Lacan’schen Ausgangslage wissen, die uns ja erklärt werden soll, aber Zizek erlaubt uns das Nicken auch und gerade für den Fall, dass wir immer noch nichts wissen, an die Stelle dieses Nicht-Wissens sich aber schon eine andere Struktur gesetzt hat, die nämlich des Immer-schon-Bescheid-gewusst-habens. An die Stelle von Kritik tritt die Tibetanische Gebetsmühle. Wo Fragen nach den vermittelnden Bereichen zwischen abstrakten Begriffen und Beispielen aus Film, Funk und Fernsehen sich stellen könnten, führt Zizek ganz uneigennützig die Wahnsinnsfigur des „verschwindenden Vermittlers“ ein, bei dem es sich eh nicht lohnt, dass man ihm hinterherfragt.

Es ist genau diese Figur, mit der Zizek den Leser, wenn dieser nicht sowieso treu wie ein Lamm folgt, terrorisiert. Man bekommt nichts in die Hand, aber die Weise seines Aussagens suggeriert ständig, dass man doch längst verstanden haben muss. Ein wirklich perfider Umgang mit dem Leser findet sich auf Seite 178. Zizek führt die verschiedenen Wege vor, mit der Christentum und Judentum mit dem Gewissen umgehen. Da das Judentum zwischen Buchstabe und Geist zu unterscheiden weiß, kann der Jude gesetzestreu sein und doch im Grunde tun, was er will. Nicht so der Christ. Wenn er die Frau seines Nächsten begehrt (in welcher Zeit lebt Zizek, dass er dieses Beispiel bringt, es ist jedenfalls nicht die Jetztzeit), dann muss er ein schlechtes Gewissen haben; er kann nicht kompensieren, und das Schlimme ist, dass die Befolgung des Gesetzes den Christen nur noch tiefer in die Schuld verstrickt, weil er ja eigentlich die Frau seines Nächsten ficken will.

An dieser Stelle stellt Zizek einen Weg in Aussicht, wie der Christ sich aus dieser Teufelei befreien kann. Zunächst, ohne dass das schon der Weg wäre, sagt er einfach nur (wie schon Denis de Rougemont im Zusammenhang mit dem Problem, nicht Don Juan sein zu wollen, dazu rät, einfach die Frauen zu zählen, die man nicht nimmt), dass der Christ eine Psychoanalyse ganz gut vertragen würde, bei der er lernt, es zu genießen, seine Pflicht zu tun. Wenn das das letzte Wort der Psychoanalyse sein sollte, dann sollte man diesen spießbürgerlichen Laden schleunigst zumachen. Wie auch immer, Zizek, an diesen therapeutischen Fortschritt eines masochistischen Genießens anschließend, fährt nun folgendermaßen fort: „Man erkennt dann nämlich leicht, wie sich mit dieser Lösung [sic!] der Teufelskreis des Über-Ichs durchbrechen lässt:“

Das Wichtigste an diesem Satz ist der Doppelpunkt am Schluss. Das Kapitel dauert noch zwei Seiten, aber die durch den Doppelpunkt geweckte Erwartung ist am Ende nicht befriedigt. Irgendwie behält man also im Kopf, dass die Lösung schon da ist, und man weiß eigentlich auch schon, dass, auch wenn sie noch nicht formuliert wurde, dies „ganz leicht“ zu machen sei. Man darf auf das folgende Kapitel gespannt sein, das „Der Ausbruch“ überschrieben ist. Schon der Eingangssatz ist wie ein Schlag vor den inzwischen wirren Kopf: „Unsere Antwort lautet [die Durchbrechung des Teufelskreises]: Der Übergang vom Judentum zum Christentum gehorcht letztlich derselben Matrix wie der Übergang von den ‚maskulinen’ zu den ,femininen’ Formeln der Sexuierung.“

Zur Veranschaulichung dieser „These“ werden ein paar Lacan’sche Trüffel gereicht, und wem dies nicht schmeckte, bekommt wie gewohnt noch zahlreiche Beispiele nachgereicht, die freilich mit der These nicht mehr allzu viel zu tun haben. Was man schließlich erfährt, ist Folgendes: Um das Christentum geht es eigentlich, das war zu erwarten, überhaupt nicht. Reiner Anlass. Zizek geht es natürlich um die Revolution, bescheidener gesagt, um eine linke Position. Die Linke muss sehr vertrackt sein, um solch ein Buch nötig zu haben, wo am Ende nichts anderes als die Philosophie des Phönix aus dem Hut geholt wird, nach der man sich erst selbst zerstört haben muss, um als ein anderer wiedergeboren zu werden. Der ethisch-politische Akt gehorcht nicht einer bestehenden Regel, sondern erfindet sie im Akt neu. Daraus entsteht ein neues Subjekt, das sich keiner vorgängigen Substanz verdankt.

Mach’s einfach wie Jesus, ruft Zizek dem Leser zu, ist doch ganz einfach: „Die Kreuzigung, der Tod des Sohnes Gottes, ist ein freudiges Ereignis, in ihm hebt sich die Struktur des Opfers sozusagen selber auf [klar], bringt ein neues Subjekt hervor [logo], das nicht mehr in einer bestimmten Substanz [igitt] verwurzelt ist, von allen partikulären Bindungen erlöst [ja, super] ist (der ,Heilige Geist’).“ Hier gibt es ein ernstes Entsorgungsproblem.

 

Dieter Wenk

 

Slavoj Zizek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000 (Volk und Welt)