Schanghait in einen Fiebertraum

Über den Roman „Schattennummer“ von Thomas Pynchon
Der 88-jährige Thomas Pynchon hat einen neuen Roman geschrieben, und ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich ihn aufgeregt aufgeschlagen habe, denn diese Schatulle ist gefüllt mit schönstem Wortschmuck, mit Sätzen, die man sich umhängen, in denen man baden möchte, damit man noch lange nach ihnen duftet. Vielleicht betritt man einen Raum und jemand blickt auf, schnuppert und erkennt, dass hier Pynchons einzigartige Beschreibungen Einzug gehalten haben. Er hat (und hat es auch nicht) eine Detektivgeschichte ersonnen, die von Hicks McTaggart erzählt, der in Milwaukee arbeitet, es ist das Jahr 1932, Bomben explodieren, weil der Ärger aus Chicago sich manchmal dorthin verirrt. Al Capone sitzt ein, die Prohibition nähert sich ihrem Ende. Hicks soll die Erbin eines Käse-Fabrikanten (dem Al Capone des Käses) ausfindig machen.
Alles beginnt so, als würden wir im Kino sitzen und einen Film der Schwarzen Serie ansehen, mit einem Helden, der keiner ist, eine gebrochene Gestalt, einer, der seine berufliche Laufbahn als Streikbrecher begann, als Knochenbrecher, als jemand, der seine Biografie mit dem Totschläger, mit den Schreien seiner Opfer in die Nacht pinselte. Dann aber lässt Hicks davon ab, er wird Privatdetektiv. Durch die Prohibition und den dadurch übermäßig konsumierten Alkohol nehmen Delikte wie Ehebruch zu; man geht fremd, weil Alkohol (und andere Drogen) die Lust steigern, sie frei- oder aussetzen, als würde man den wilden Affen in sich an die Luft lassen. So wie auch Hicks sich mit einer Tänzerin trifft, die ihn lieber verheiratet sähe, weil das doch den Kick erst ausmacht, weil der Ring am Finger eines Mannes ihre Begierde erst vollends zum Überkochen bringt, sodass sie ihn bittet, er möge doch in den Hafen der Ehe einlaufen, denn dann, oh ja, könnte sie zu ihm an Bord kommen, damit sie das Schiff gemeinsam zum Sinken bringen – natürlich tanzend. Denn Musik spielt eine große Rolle in dem Roman.
Ein Buch ist eine Zeitmaschine, überhaupt ein Flugobjekt, auch mal ein U-Boot, mit dem man ein- und untertaucht, um so unter den Eisschollen der Realität nach dem wahren Wesen der Welt zu forschen, hier wäre es auf einer Insel zu finden, die untertunnelt ist. Pynchon Island. Gänge, die bald ins Jenseits, bald ins Diesseits führen. Träume von Schattenwelten, von denen man nicht weiß, ob sie wirklich nur fantasiert werden. Waffen verschwinden im Nichts, erscheinen wieder, als hätten sie tatsächlich ihren eigenen Willen. Fragen werden gestellt, verschwiegen, und man weiß bald nicht mehr, wer zu den Toten gehört, wer zu den Lebenden, weil alles so durchmischt ist wie ein neues Kartenspiel vor der nächsten Runde. Aber das Spiel läuft weiter.
Und dann diese Sätze, wieder und wieder, in die man sich legen will, und ich lasse oft das Buch sinken und denke, ich werde es wieder lesen müssen, so schnell ist man mit diesen Seiten nicht fertig, mit den Zeilen, die über das Papier laufen und durch Ruhe und Konzentration zu einem Feuerwerk erweckt werden, dann aber zu einem, das einen blendet, das einen irritiert, weil man nicht mehr weiß, was Böller, was Bomben sind. Bilder taumeln durch den Kopf, mal aus Filmen von Polanski, David Lynch, dann wieder den Brüdern Coen, geflutet von Sprache, die einem bald bis zum Hals steht, sodass man nach Luft schnappt, weil man manchmal meint, ersticken zu müssen vor Anspannung.
Und dann dieser Humor, einer, der die uns bekannte Welt auf den Kopf stellt und sie so lange schüttelt, bis alles aus den Taschen gefallen ist, all die versteckten Briefe, die niemand lesen soll, die Nummern, von denen man behauptet, die Anschlüsse gäbe es nicht. Münzen und Käseimperialisten breiten sich vor einem aus, ein Sammelsurium an Unglaublichem. Auch hässliche Lampen. Mehr und mehr wird man in eine cineastische Halluzination gerissen, einem Rausch, als würde man durch die Träume von Orson Welles und Roger Corman stolpern, dorthin, wo Peter Lorre von seinen Kokainfantastereien berichtet. Hicks wird schanghait, wird mit Tropfen außer Gefecht gesetzt und nach Europa verschifft. Er gerät nach Ungarn, aber längst sind wir im Fiebertraum des Thomas Pynchon angekommen.
Thomas Pynchon ist das große Fragezeichen der Literatur, ein Rätsel, das dadurch, dass es keine Aufklärung erfährt, selbst wieder Literatur wird, ein Autor, der scheint, als wäre er von einem gewissen Thomas Pynchon erschaffen worden, der wiederum vielleicht auch von einem Thomas Pynchon geboren wurde, um so als Puppe in der Puppe aufzuzeigen, wie seine Romane funktionieren, nämlich als Geschichten, die sich jagen, die sich überholen, die zu einer surrealen Zirkusaufführung geraten, bei der ein Auftritt den nächsten bald schon überholt; daher all die Atemlosigkeit der Leser.
Das Geschichtenkarussell dreht sich schneller und schneller, so schnell, dass man sich nach einer Weile leider an die Schraube erinnert fühlt, die überdreht wird, und wie schon bei Paul Thomas Anderson und seinem Film ONE BATTLE AFTER ANOTHER berühren mich die Personen nicht, sie langen mich emotional nicht an, lassen mich nicht mitfiebern, weil sie mehr und mehr zum reinen Treibstoff des Erzählmotors verkommen. Thomas Pynchon erschafft – wieder einmal – ein literarisches Perpetuum mobile, eine Maschine, die sich unaufhörlich selbst füttert und – ließe Pynchon es zu – auch nie enden würde. Er hat mit „Schattenkammer“ ein genuines und überkandidelte Sprachmeisterwerk erschaffen.
Guido Rohm
Thomas Pynchon: Schattennummer, Rowohlt 2025