Ein Viereckpferd

Mit Kim Hyesoons Autobiographie des Todes wird eine der wichtigen zeitgenössischen Stimmen der Weltlyrik bei S. Fischer in Bandlänge zugänglich gemacht. Dank der Übersetzung, nicht nur der Texte, sondern eines zusätzlich atemberaubend guten Interviews mit der Autorin, „In meinem Schreiben möchte ich Neurologie mit Ethik verbinden“, von Uljana Wolf und Sool Park ergibt sich ein ungewöhnliches Buch. In diesem Jahr erschienen, lesen sich die Gedichte der „weiblichen Dichterin“, so Hyesoon selbst, als verstörende Dokumente eines sowohl zeitgebundenen (die Jahre nach dem Millennium, die Zehner usw.) als auch zeitungebundenen Nachdenkens über Tod, Unglück, Umgang, Auswirkungen, Hallraum, „Dein Sterbebild ruht jetzt in den Handys der Jungs“, „Weil sie tot ist, kann sie sich beliebig vergrößern, verkleinern“. Die Wahrnehmungen einer geisterdominierten Vergangenheit / Gegenwart kreisen um heftige Einfälle, „Südkorea ist ein Land mit einer sehr hohen Geisterdichte“.
„Wenn du ganz lang bist und betrunken
bringst du den Regen nach Hause“
Gespenstische Refrains, schlichte, auf Bilder reduzierte Sprache, die wie ein Kartenspiel aufscheint, erweitert um comichafte Zeichnungen von Fi Jae Lee, durchaus ungefällig, „wenn die Sonne die Abfallinsel auf dem Fluss kitzelt“, sperrig, „der Flug des Schreis“, in beinahe jedes Bild fällt etwas. In immer neuen Anläufen formen sich Bilder der Anwesenheit der Abwesenheit, sprich: des Todes im Moment seines Vollzugs, zu verschieden dichten Lyrikgebilden, deren geschmeidige Sprache doch täuschend ist. Das Fassbare ist hier das Unfassbare, sodass die Texte nicht aufhören. „Legt ihrem Herzen eine Windel an“, „Hoch kam ein Fass voller Tränen“. Bestürzendes, plötzliche Ausbrüche, wie ein Speien in Tage oder grell wie in Mama des Todes, virtuos wie in dem absurden Sprachgebet Nichtherr. Eigensinniger Interpunktion folgen Bilder dicht auf dicht, oft wenig verbunden auf den ersten Blick. Die Autobiographie des Todes ist weniger Klang- oder Rhythmusthematik als eine Sammlung Konserven mit überraschenden Inhalten, gewaltvolle Texte, mit traumatischem Unterton, „Kreischregen fällt“.
Der zweite Text im Band, Gesicht des Rhythmus, ist eine atemlose Szenenhatz durch eigentümliche Stimmungen. Die ernsthafte, jedoch an Stellen, wo immer es sich anbietet, verspielte Übersetzung haucht dem Textwerk Lebendigkeit ein. Ihnen setzt das ausführliche Interview einen beeindruckenden, menschlichen Schluss- / Höhepunkt, „Dichter sind Wesen [...], die ihr eigenes Ende schon vorher sehen“, sagt Kim Hyesoon, & fragt etwas später: „Sind Dichter nicht Wesen, die den eigenen Tod passiv wiederholen, um so dem Töten Widerstand zu leisten?“, & immer wieder „sind Dichter nicht Wesen [...]?“, „stimmt es, dass Dichter im Augenblick des Todes ein dreckiges Blatt Papier sehen?“ Mit der Prägung „Poetieren“ setzt Hyesoon ein beeindruckendes Eigenkonzept der Welt entgegen, das sie mit den Vorgängen des Kochens in Beziehung setzt. „Im Dichten nehme ich auch etwas Lebendiges, werfe es in die Welt der Sprache und tische es im Mund eines lebendigen Menschen wieder auf.“
Jonis Hartmann
Kim Hyesoon: Autobiographie des Todes, S. Fischer 2025