DIE MAUS

Von Wolfgang W. Timmler
Wim konnte gut klettern, und nur er wusste, wo der Dietrich zum Schuppen war. Er lag im Nest, das der Taube mit dem schwarzen Halbmond gehörte. Zwei Junge hatte sie darin aufgezogen. Jetzt stand es leer und war sein Versteck. Wim steckte den Dietrich in die Hosentasche und sah nach unten. Auf der Gartenbank saß Saskia. Ihre Brillengläser strahlten wie Suchscheinwerfer zu ihm hoch.
- Wenn Mama dich auf dem Baum sieht, kriegst du bestimmt Dresche.
- Sie kann mich nicht sehen. Ich bin unsichtbar.
- Du spinnst. Deinen dicken Hintern sieht sie sofort. Gibst du mir den Dietrich?
- Nein. Jetzt kriegst du ihn nicht. Du hast gesagt, ich spinne.
- Mein Gott, bist du empfindlich. Genau wie Papa!
- Ich habe aber ganz genau gehört, dass du es gesagt hast.
- Der Dietrich gehört nicht dir.
- Dir gehört er auch nicht. Er gehört Papa.
Die Äste knackten, als Wim höher stieg.
- Ich sehe, was du nicht siehst.
- Eine Wolke?
- Kalt.
- Wehe dir, es ist eine Raupe!
- Noch kälter.
- Es ist dein dämliches Vogelnest, stimmt's?
- Ich glaube, ich erfriere gleich.
- Nun sag schon, was es ist.
- Eine Taube.
- Wo?
- Auf dem Dach. Jetzt fliegt sie weg.
- Wieso sehe ich sie dann nicht?
- Wenn sie zurückkommt, kannst du sie ja fragen.
- Blödmann!
Saskia hatte genug von diesem albernen Spiel und stand auf.
- Was hast du vor?
- Wer zuerst bei der Schaukel ist.
- Warte auf mich!
- Erster!
- Du bist gemein.
- Jetzt fliege ich zur Sonne. Und jetzt zum Mond.
- Dein Höschen ist schmutzig.
- Lügner!
- Lahme Schnecke!
- Du fängst gleich eine.
- Schnecke!
- Ich habe dich gewarnt, Wim.
- Das sage ich Mama.
- Und ich erzähle Mama, dass du auf dem Baum warst.
- Das machst du nicht!
- Doch, ich tu's, wenn du mir nicht den Dietrich gibst.
- Ich habe sie aber zuerst entdeckt.
- Keine Angst. Ich gucke deiner Maus schon nichts weg.
Der Schuppen war voller Krempel. Auf dem Boden türmten sich vergilbte Tageszeitungen, und zwischen leeren Obstkisten rostete trotzig ein Dreirad vor sich hin.
- Hier ist sie, Saskia. Was habe ich gesagt? Sie hat die Augen zu und schläft.
- Ich weiß nicht. Ich glaube, sie ist tot.
- Warum ist sie tot?
- Hör auf zu heulen! Ich habe doch bloß Spaß gemacht.
Sie begruben die Maus im Garten. Auf das Grab steckte Wim einen kleinen Ast. Saskia lachte, als er zerbrach. Behutsam zog Wim den Ast wieder heraus, und mit ernster Miene betrachtete er das kleine Loch, durch das Sandkorn um Sandkorn verschwand.