Das Moos der Matrosen

„An die Apostel über die Ankunfft des Heiligen Geistes.
Taube im Anflug:
die abgestrahlten Kirchen in Stahlnetze gehüllt,
die Simse verstachelt, wo sich das Licht fängt“
Hans Thills Karaoke 2 ist ein collagenhaft komponierter Konzeptgedichtband, zwischen pick & shuffle, der Gedicht-Backingtrack mit abnehmendem Alter, darüber oder darauf, eine Dichtperformance wie vielleicht ein Mikro direkt an den Assoziationen. Manchmal geht das Gedicht aus dem Bild, der Rhythmus läuft weiter, als wäre etwas gerade ausgetreten, dann kommt das Bild zurück. Eine aufgemischte Sprache aus allem, wie ein produktiver Beutel Jetzt / Mal, „Fantomas Sinalco, Mama Lauda, Ich bin ein Frog“ etc., die allen Dichtregeln gehorcht, beinahe unzensiert, mithin ein Wink ins Freie, mit ornamentalem Risiko eine sozusagen improvisierte Dichtung aufs Gefolge, einem Schuss Dada und irgendwie im Ton, der Stimmung als gehen wir alle nochn Gedicht hebn, jetze: „Deine Sperake hast du ja immer mit“ (wie unlängst der Veranstaltungstitel zu Thills 70. im Berliner Haus für Poesie).
Thills schräger hoher Ton fällt, kullert und bleibt doch stets in seinem eigenen Sattel. Er macht Spaß, er kleckert, unbekümmert, eloquent. Sein Call-&-Response-Prinzip am Quasi-Original und eben seiner Antwort als Karaoke ist prompt, wie sicher eine gute Idee, textlich. Angefangen beim Namen entsteht aus jedem „...“ ein Impuls, loszulegen: „Friedrich Hölderlin // Freu dich, Dicker, nimm dir was, Holrunter“ als Genese einer Spur über der Spur. Die Dichtsprache Thills experimentiert sich durch die Faxen, mit ziemlich offenem Visier. Manchmal wirkt es fast auf dem Weg ins Unbewusste. Das Unterbringen von realen Vokabeln gehört ebenso dazu wie das parodistische Rhythmeln. Manche Textsteine gehen hohes Tempo, werden schnell, wie sie verschwinden, greifen dem Backingtrack vor, „Die Trottelsuppe aß ich nicht“.
„Also da einer im Berg das Licht / anknipst, gehen all die Mineralien / rasch an ihren Platz“. Hier ist etwas offen. Ein Programm außerhalb des Programms. Das offene Preisgeben von Ansatzpunkten, ihrer Hallräume ist ein ehrliches Umgehen mit Inspiration – sie wird gefeiert, statt verheimlicht oder gar verneint. Im Gefolge liegt der Schwerpunkt.
„Qui de la mousse douce émerge,
Von allen Pflanzen gelingt dem Moos die dichteste
Haut. Nicht so dem Stein,
der Haut ist bis in den Kern“
Eine vergnügliche Vorführung in seriöser Unbekümmertheit, das ist Karaoke 2, in einem wichtigen Prozess anschaulich dargestellt von Hans Thill.
Jonis Hartmann
Hans Thill: Karaoke 2, Engeler 2024