Jedes Gefühl
Eine Rede kann Gerede sein oder eine mitreißende Erörterung, Diskussion, lecture performance etc. Im Fall von Terrance Hayes‘ Berliner Rede zur Poesie, unter dem Titel Einführung in eine illustrierte Zeitleiste poetischer Einflüsse bei Wallstein erschienen, zweisprachig, großartig übersetzt von Léonce W. Lupette, ist Letzteres mehr als der Fall. Hayes gelingt auf ganz wenigen Seiten, das absolut grenzenlose lyrische Denken / Fühlen im zeitgenössischen Moment zu bannen. Mit einfühlsamen wie witzigen Illustrationen, deren Aussagepunkte in Wirklichkeit häufig als Fragen markiert sind, so aus der vermeintlichen Kanzel einen Spiegel formen, geht die illustrierte Zeitleiste von Energie zu Energie, berücksichtigt diverse wie kritische, bekanntere wie verdeckte Quellen, so zum Beispiel die kontroverser hingestellte Figur Wallace Stevens in einem frühen Widmungsgedicht von Hayes: „[...] dieses Lied ist für meinen Gegenspieler, / den glattrasierten, grau gekleideten, grauen Schutzherrn / aus Hartford, den Kaiser des Weißseins, / blau wie ein Körper aus Schnee.“
Interpretierend gezeichnete Karten wie aus einem Quartett stellen einzelne Protagonist*innen vor, in immer wechselnden Annäherungen, die bei Weitem die Gepflogenheiten einer Rede verlassen, zu Oswald Eggers „Herde der eda.“ werden, die Lyrikkompetenz selbst verkörpern, „Ist ein Fenster eine schimmernde, an eine blaue Mauer gehängte Regenscherbe?“ Lyrikerörterung in Lyrik von erörternden Erörterten von Hayes. Dieser Zeitstrahl beinhaltet wie angekündigt zu großen Teilen auch Musisches aus Zeitgeschichte, Gewaltvolles, Kulturarbeitspunkte – in puncto Musik meist Statementalben mit Konzept, Kosmos als Follower, der „rätselhafte Planet New Jersey“. Dazu streut sich plötzlich ein PoetryPrompt zu Frank Stanford hinein mit Assoziationen, Covergeschichte, die sich dieser mythischen Dichtergestalt als Ausstrahlung nähern. Immer wieder fallen Gwendolyn Brooks, Wanda Coleman als einander selbst gezogene Säulen, „Jedes Gefühl ist eine Botschaft von der Schwerkraft der Erde“.
Den Adressat*innen werden die Karten gelegt, ein Poesie-Dom, eine „vorstellbare Mahlzeit, deren Vorbereitung zwanzig Jahre benötigt“. Dieser Vortrag von Terrance Hayes ist eine immens wichtige Buchpublikation, die inspirierende Funken schlägt, sich jedoch genau nicht in die Karten gucken lässt. Die Anregung zur Empathie liegt hier zwischen den Zeilen, wird ihre Empfänger*innen sicher finden. Macht etwas daraus. „Man sagte mir, Schreiben gebe uns Macht über die Vergangenheit.“
Jonis Hartmann
Terrance Hayes: Einführung in eine illustrierte Zeitleiste poetischer Einflüsse, Wallstein 2024