18. Oktober 2024

Beschwerliche Gestaltwandlungen


Die schweizerisch-italienische Autorin Alice Ceresa veröffentlichte zeitlebens nur sehr wenig. Obwohl für ihr Debüt gefeiert, ausgezeichnet, zog sie es vor, zwar beständig als Schriftstellerin tätig zu sein, jedoch den Großteil ihres Outputs unter Verschluss zu halten, zu redigieren oder zu vernichten. Diaphanes bringt ihre erhaltenen Werke heraus. Übersetzerin und Herausgeberin Marie Glassl findet in Der Tod des Vaters neben einem konzisen wie mitdenkenden Nachwort eine hochartifizielle Sprache für Ceresa, die sich Einordnung entzieht wie ganz in ihrer Politik der Analyse papi-zentrierter Familienmodellage aufgeht. Interessanterweise ist Der Tod des Vaters eine Auftragsarbeit für das Radio, in sieben Folgen. Was vermutlich die spezielle Form von Sendungsbewusstsein dieses literarischen Essaytextes erklärt: Er soll gehört werden. Mit dem Nachwort ergibt sich eine kluge Dokumentation.

Knalltrocken werden die Positionen, Verstrickungen, überhaupt nur möglichen Handlungsspielräume der Angehörigen nach jenem Tod des Vaters aufgerollt. In wenigen Situationen gestattet sich Ceresa literarische Freuden, jedoch in genau in der Menge kalkuliert, die das Buch zum Buch (aus der Sendung machen). Ihr Text performt durch die gewählte Sprache das, was er meint: Der Vater ist ein Fakt. Im ganzen sprachlichen Sinne. Der personalisierte Entzug dessen bedeutet, das Schicksal selbst vor allem in einem sprachgeregelten Sinne in die Hand zu nehmen zu versuchen. Dabei weist Ceresa nichts Überhöhtes zu, betreibt auch kein Bashing, es ist weder abzustreiten noch zu leugnen, wie ein Patriarchat etwas erschafft, das ausstrahlt und rollen-immanente Muster samt Personal kerndienlich ertüchtigt, ohne eine Wahl derselben vorauszusetzen – eine Schaffung, die ohne Auflehnung einen Istzustand enthält, erhalten wird in Ceresas Worten (von denen sofort alle zitierbar wären), „ihr keinesfalls temporäres Unglück“, die „abwärtsgerichtete Folge zeitgemäßer, aber ungleicher Ringe“ als das Zentrum einer Ordnung, Geistesverfasstheit, ein „Ameisenhaufen“-Modell, wie sie schreibt, oder auch „Tentakel“, die sie ins Spiel bringt. Die Kombination aus Allwissenheit und Neugier macht Ceresas schriftliches Verfahren abgesehen vom Inhalt interessant. Auf der Suche nach literarischen Bildern waltet eine Strenge, die verschachtelt. „Wir arbeiten uns hier am Begriff des Vaters ab“, lässt Alice Ceresa die jüngere Tochter in Gedanken formulieren. Kristallin nüchterner Rhythmus evoziert vorsichtig, kontrolliert und bewusst die „Willkür der Lebenden“. Eine sozusagen sagenhaft reflektierte Sprache, die es dennoch schafft, den Raum aufzumachen, den Worte einnehmen können, um Lesende zu aktivieren. Wie das Nachwort erläutert, nicht zuletzt unter extremen Opfern der Autorin, die im Zustand „kontinuierlicher Krise“ schreibt und nicht veröffentlicht.


„Sie wird einfach eine Schlaftablette schlucken und im Traum ungestört in vollen Zügen zelebrieren, dass der Tod des Vaters ihr ganz allein gehört.“ Jedes Kapitel, jede Hörfolge ist einer involvierten Partei gewidmet, die dem Prozess der Verbegrifflichung Tod des Vaters etwas abgewinnt, abringt beziehungsweise entgegenhält, und sei es symbolisch im Angesicht des Sprachweltbilds. „Sie ist ein kleines mechanisches System, wir sagten es bereits.“ – „Zudem ermüdet der Verstand mit den Jahren und befreit sich nicht mehr allzu häufig von dem Schutt und den Trümmern, die ihn verstopfen, wähnt sie lebendig oder wandelbar, bloß aufgrund der ursprünglichen Veränderlichkeit des fließenden Elements, in das sie eingebettet sind.“ Bevor das kurze, aber doch unendliche Buch mit einem Knallerschlusssatz endet – an dieser Stelle einmal vorenthalten –, gibt es von Ceresa punktgenaue Personeninszenierung, der Vater selbstredend: „Im unteren Teil des Geländes hatte er sorgfältig jahrhundertealte Bäume gefällt, damit sie mit ihren viel zu zahlreichen Wurzeln den Erdboden nicht unfruchtbar machen, ihn nicht mit ihrem Herbstlaub zudecken, während dort noch Gras wachsen soll.“ Und tatsächlich wirft Ceresa auch ein beinahe komisches Licht auf den Priester während der Bestattungszeremonie: „Hier versucht der Priester noch ein letztes Mal, wenigstens unter den Lebenden einen Anschein von Menschlichkeit zu erzeugen, einen Ausbruch von Anteilnahme, einen Funken von Trauer. Auf sich allein gestellt zelebriert er auf tragische Weise die Leere im Angesicht dieser Luke.“


Entlarvendes Figurenkino, ist Der Tod des Vaters in dieser Herausgabe eine perfekte Publikation. Dicht, klar, wühlerisch. Die Lesemühe lohnt sich, die abgeworfenen Sendungen senden. Bald wird an selber Stelle auch Ceresas erster Roman veröffentlicht werden, auf den man also gespannt sein darf.

Jonis Hartmann

 

Alice Ceresa: Der Tod des Vaters, Diaphanes 2024